Von Naturkindern, Flusspiraten und geheimen Gärten – wie unsere Autorin Mariele Diehl in der Hinwendung zur Natur mehr über sich selbst erfuhr und wo sie zu ihrem inneren Frieden fand.
Ich weiß noch, wie ich als Kind stundenlang den Wald suchte. Ganz oben, im Turmzimmer meiner Schule, glaubte ich ihn bei gutem Wetter zu sehen. Ein grünes Juwel am Horizont. Ich brach auf zu dutzenden Abenteuern, überquerte Kreuzungen, Baustellen, Autobahnbrücken, unzählige Straßen, Radwege und Fußgängerzonen. Doch ich fand ihn nie, den Wald. Nur eine Kleingartenanlage, durch die ich dann stromerte, mit meinen kleinen Händen durch die Zäune griff und Erdbeeren klaute. Die schmeckten nach Autobahn. „Du bist ein Naturkind, dass das Pech hatte, in einer Großstadt aufgewachsen zu sein“, sagt meine Mutter.
Irgendwann hörte ich auf, raus zu gehen. Das Getöse der Autos tat mir in den Ohren weh, das Geblinke, Gehupe, Gestinke der Stadt überforderten mich. Das Leben war nicht wie in Astrid-Lindgren-Romanen. Da war kein Bullerbü. Kein Borka Wald. Kein Kirschblütental. Nur die Paulinenstraße. Die A40. Und der Limbecker Platz.
Wir sind Teil der Natur
Wie wichtig die Natur für unsere psychische Gesundheit ist, zeigen zahlreiche Studien. Mit der Umweltpsychologie gibt es sogar eine eigene Fachrichtung, die sich mit den Auswirkungen natürlicher Umgebungen auf das Wohlbefinden auseinandersetzt. Doch: „Wir haben das Gefühl für unseren Platz in der natürlichen Welt verloren“, mahnt Geologin und Outdoor-Expertin Ruth Allen an. Anstatt die Natur als selbstverständlichen Teil unseres Lebens, ja auch unseres Überlebens anzuerkennen, drängen wir sie immer weiter zurück. Wir fühlen uns entkoppelt. Als Fremdkörper im Wald. Das Moor macht uns Angst. Wir meiden die finsteren Nadelwälder. Fährten kann schon lange keiner mehr lesen. Der Wald muss immer mehr Parkplätzen, neuen Wohnvierteln und Autobahnen weichen.
Mein “Inneres Naturkind” sucht den Wald
Mein „Inneres Naturkind“ ist nie erwachsen geworden. Auch heute sucht es noch den Wald. Doch mittlerweile hat es ihn gefunden. Ich lebe an der Lahn. Mein Zuhause ist keine Wohnung, es ist ein Garten. Unten am Ufer des Flusses habe ich ihn angelegt. Dort sehe ich den Gurken beim Wachsen zu, streichele Regenwürmer, lausche der Meditationsmusik des Flusses. Meistens habe ich meine Zeichensachen dabei. Man kann die Natur nicht einfangen in Bildern, doch kleine Abdrücke von ihr schaffen es immer wieder ihren Weg in mein Skizzenbuch. Oft spaziere ich auch das Ufer entlang. Man muss ein Stück durch Brennnesseln gehen, dann unter einer Brücke hindurch. Es ist ein Geheimweg. Zu einer Halbinsel.
Meine Insel
Die Insel ist jedes Mal anders. Mal sind es viele Inseln, die getrennt worden sind von der Flut. Mal knirschen Muschelschalen unter meinen Schuhen. Es gibt Tage, da bildet sich ein kleiner Sumpf auf der Insel. Dort habe ich mal einen Frosch gesehen. Im Schatten der Bäume wächst eine ganze Apotheke. Ich finde jedes Mal ein neues Kraut. Lichtnelke, Klettenlabkraut, Schöllkraut, große Klette, Distel, Taubnessel, Hainsternmiere. Fast fühlt es sich an wie eine Schatzsuche, wenn ich dort Kräuter sammle. An jedem Ort, an dem ich gelebt habe, steht ein Baum, zu dem ich immer wieder zurückkehre. Im Zentrum der Insel ragt ein Kastanienbaum empor. Er ist wie ihr Herz, seine gewaltigen Äste scheinen den Himmel zu tragen. Bäume haben mich schon immer fasziniert.
Bäume sprechen direkt mit unseren Herzen
Lange habe ich mir vorgestellt, dass diese Bäume sprechen könnten. Vielleicht wispern ihre Blätter im Wind? Schreiben die Furchen in ihrer Rinde ein Gedicht? Man muss ganz nah rangehen, um sie zu hören. Und selbst dann sprechen sie nur langsam. Brauchen Jahrhunderte um ein Wort zu bilden. Heute mag ich auch die Vorstellung, dass Bäume stumm sind. Dass sie die Worte nicht brauchen, an die wir uns so klammern. Vielleicht kommunizieren sie direkt mit unserem Herzen. „Das schweigende Wunder des Lebens“ nennt Benno Fürmann sie in seinem Buch „Unter Bäumen“, in dem er beschreibt, wie Bäume zu seinem Ruhepol wurden. „Sie wirken auf mich wie ein schweigender Aufruf zur Achtsamkeit, zur Wertschätzung und zum Lauschen.“
Mariele Diehl
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 4/2023
-
bewusster leben 4/2023
7,80 €
(Juli/August 2023)inkl. MwSt.
zzgl. Versandkosten
Kaufen