Wo geht’s hier zum Leben?

Wir stehen täglich vor einer Aufgabe, die so einfach scheint und doch so kompliziert ist: Im Hier und Jetzt leben. Die Psychologin Anke Precht plädiert trotz Pandemie und den damit verbundenden Einschränkungen dafür, das zu tun, wofür unser Herz am heftigsten schlägt.

Immer nur Einschränkungen und Verzicht, immer noch Pandemie – wo bleibt da das Leben? Viele Menschen sagen mir, dass sie sich endlich wieder nach dem echtem Leben sehnen. Intensiv, voller Gefühle, sinnlicher Erfahrungen und Freude. Klar, in den vergangenen zwei Jahren war das nicht so einfach. Aber die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen viel zu wenig lebendig fühlen, manche sogar überhaupt nicht, ist nicht neu. Durch die Pandemie und die damit verbundenen Verbote ist das nur viel sichtbarer geworden. Ablenkungen, emotionale Kicks durch Konsum, Feiern, schnelle Beziehungen, Spaß und gekauften Genuss sind viel schwieriger geworden. Zurück bleiben eine innere Leere, Unzufriedenheit und die Frage: Wo geht’s hier bitte zum Leben?

Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas

Was die Pandemie wie durch ein Brennglas in unser Bewusstsein geholt hat, ist keine Panne. Es ist wichtig. Wir sollten deshalb auch nicht versuchen, die unangenehmen Gefühle nun irgendwie wegzubekommen, sie zu betäuben oder durch Emotionen aus zweiter Hand zu ersetzen, zum Beispiel durch Seriengucken, Social Media oder nächtelanges Surfen im Internet. Wenn wir in dieser Zeit der Einschränkungen genau hinschauen und unsere dabei aufkommenden Gefühle wirklich ernst nehmen, dann bekommen wir einen Schlüssel für echtes Lebendigsein in die Hand. Wie ich das meine?

Das Gefühl, zwei Jahre Leben verpasst zu haben

Sarah erzählt unter Tränen, dass sie durch die Prüfung zur Betriebswirtin gerasselt ist. Knapp zwar, aber durchgefallen. Soweit, so gut. Das passiert ständig, es passiert vielen. In ein paar Monaten kann sie die Prüfung wiederholen. Es wäre also eigentlich nicht dramatisch. Ein zweiter Anlauf und gut. Aber Sarah leidet. Sie hat zwei Jahre alles andere hintenangestellt, was sie sich im Leben gewünscht hat. Zeit mit den Freundinnen? Nach der Prüfung! Einen Partner suchen und finden? Für den hat sie eh keine Zeit, also auch nach der Prüfung! Sport machen, sich um ihre Gesundheit kümmern? Spontan wandern gehen, weil das Wetter herrlich ist? Erst einmal die Prüfung schaffen! Dabei hat sie sich endlos gequält, weil manchmal die Motivation im Keller war und sie die Zeit zum Lernen nicht einmal optimal genutzt hat. Jetzt hat sie die Prüfung immer noch vor sich, und dazu noch das Gefühl, zwei volle Jahre ihres Lebens verpasst zu haben.

Leben ist jetzt – oder gar nicht

Das Schlimme daran: Sarah hat recht. Was ist jetzt zu tun? Noch einmal ein halbes Jahr auf das Leben verzichten? Oder endlich losleben, auch wenn das unvernünftig scheint und man sagen könnte: Ist doch nur noch ein halbes Jahr, das schaffst du doch noch! Dabei wissen wir doch alle, dass Verschieben keine gute Idee ist. Das erleben wir in unserer Umgebung und haben es bestimmt auch schon in unserem eigenen Leben erfahren. Wenn wir die Dinge aufschieben, die unser Leben eigentlich erst lebenswert machen, sind sie manchmal nicht mehr möglich. Endlich aus dem blöden Job raus, aber krank. Endlich Mama, aber der Partner weg. Endlich … Nein! Leben ist jetzt –oder gar nicht! Aber warum tappen wir dann immer wieder in dieselbe Falle?

Wie wäre es, wenn du einfach mal loslebst?

Vernunft prägt unsere ganze Gesellschaft. Wir planen die Zukunft, teilweise bis zur Rente und darüber hinaus. Glück ist einfach, sagt man uns: Wohlstand, ein sicherer Job, Karriere, Kinder, eine feste Partnerschaft, zweimal im Jahr Urlaub. Vielleicht ein bisschen Ruhm. Vielleicht ein paar Tausend Follower auf Social Media. Oder: Für andere da sein, es allen recht machen, dafür sorgen, dass uns möglichst viele Menschen toll finden. Das ist das allgemeine Rezept.

„Wie wäre es, wenn du einfach mal loslebst?“ Mit dieser einfachen Frage kannst du andere Menschen ziemlich aus dem Gleichgewicht bringen. Du wirst spannende Antworten und allerlei Ausflüchte hören: „Alles gut und schön, aber wenn du drei Kinder hast, dann geht das nicht …“, oder: „Tja, wenn meine kranke Mutter nicht wäre…“, oder: „Noch zwei Jahre bis zur Rente, dann habe ich endlich Zeit und dann beginnt das Leben für mich!“ Warum eigentlich verstecken wir uns ständig hinter Ausreden, wenn es darum geht, das zu tun, was uns wirklich lebendig sein lässt?

Anke Precht ist Psychologin und Autorin und arbeitet in eigener Praxis. Daneben beschäftigt sie sich seit Jahren mit den Themen Höchstleistung und Resilienz, schult Menschen in Unternehmen, coacht SportlerInnen und KünstlerInnen. Soeben ist von ihr das Buch “Wer bin ich wirklich?” bei ars Edition erschienen. www.ankeprecht.de

Den ganzen Beitrag finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 1/2022

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