Die Kunst, sich selbst und andere zu achten.
Es ist eine Binsenweisheit: Was wir bekommen möchten, müssen wir geben können, und was wir anderen schenken wollen, müssen wir auch uns selbst erweisen. Doch wer versucht, bewusst zu leben, neigt oft dazu, den Blick eher auf die eigenen Defizite zu richten. Statt spontan fünf eigene Stärken zu nennen, könnten wir endlos Eigenschaften aufzählen, die wir an uns noch verbessern möchten. Ständig entwerten wir uns selbst, etwa weil wir so empfindlich sind, weil wir uns so leicht von anderen verletzen lassen (und mit dieser Formulierung schieben wir uns auch noch gleich selber die Schuld daran zu!), weil wir eifersüchtig oder neidisch auf jemanden waren oder weil wir „schon wieder“ ausgerastet sind. Kurzum, wir sind enttäuscht, dass wir so sind, wie wir sind. Das führt dann leider dazu, dass wir auch an anderen Menschen eher das Haar in der Suppe sehen, statt sie zunächst einmal einfach so anzunehmen, wie sie sind. Dabei hat der Wert, den wir uns und anderen so gerne zusprechen wollen, nichts mit Leistung zu tun. Sprachlich geht „Wert“ auf dasselbe Wort zurück wie „Würde“, ja, laut Duden ging es sogar aus diesem hervor. So wie die Würde des Menschen unantastbar ist, hat jeder Mensch – und jedes Lebewesen – einen Wert an sich. Wenn es uns gelingt, uns dieses Wertes bewusst zu sein, dann wird es leichter, uns selbst und unser Gegenüber zu schätzen. Denn wenn wir um den eigenen Wert wissen, können wir uns auch über den Wert der anderen freuen. Werden Sie wertgeschätzt, öffnet sich Ihr Blick für Ihre positiven Eigenschaften und Sie können an Ihren eigenen Wert glauben. Und wenn sie sich selbst als wertvoll erleben, können sie im Gegenzug auch Wertschätzung entgegenbringen. So entsteht quasi ein Schneeballsystem der Wertschätzung, mit dem wir nach und nach ein Klima um uns herum schaffen können, das allen, auch uns selbst, guttut und uns leben lässt.
Mir selber wertvoll sein
Aber wie fangen wir es an? Der hektische Alltag verlangt uns doch schon genug ab. Wie verhindern wir, dass unser Wunsch, Wertschätzung zu üben, lediglich eine weitere Anforderung wird, die wir an uns stellen? Zwei kurze Übungen befreien uns von solchem Druck und schaffen quasi kleine Zeitinseln zum Durchatmen. Am Morgen (oder auch zwischendurch) kann uns die folgende Übung stärken:
Übung: In den Spiegel schauen
Nimm dir ein wenig Zeit, dein Gesicht heute aufmerksam im Spiegel zu betrachten. Wen siehst du? Bist du es, der dich da anschaut, oder deine Rolle als Mutter oder Vater, als Partner oder Partnerin, als Berufstätige oder Berufstätiger? Wie hat sich dein Gesicht verändert, seit du es das letzte Mal aufmerksam betrachtet hast? Versuche, drei Dinge zu entdecken, die dir richtig gut gefallen an dir. Nimm auch wahr, was dir nicht so gut gefällt, aber versuche, es zu akzeptieren, ohne dich zu verurteilen. Verneige dich in Wertschätzung vor deinem Spiegelbild und versuche, diese Achtung vor dir selbst mit in den Tag zu nehmen.
Wenn uns im Laufe des Tages die anstehende Arbeit überrollt oder eine schwierige Situation uns an unsere Grenzen bringt, dann ist es Zeit für eine ganz persönliche Minute:
Übung: Eine Minute für mich Nimm dir mehrmals tagsüber bewusst eine Minute Zeit, in der du dir überlegst: Was brauche ich jetzt, damit es mir gutgeht? Auch wenn es die Zeit und die Situation nicht immer zulassen, genau das zu tun, was Dir gerade guttun würde, gibt es immer wieder Gelegenheiten für kleine „Atempausen“. Nutze sie für eine Tasse Tee, ein Stück Schokolade, einen kleinen Spaziergang oder fünf Minuten Nichtstun. Du wirst spüren, dass diese Übung den Alltag verlangsamt und dich achtsamer werden lässt für deine eigenen Bedürfnisse.
Für Situationen, in denen „alles auf einmal“ erledigt sein will und eine Pause ganz unmöglich scheint, gibt die Psychotherapeutin Dr. Anne Haberzettl ihren Klientinnen eine einfache Frage an die Hand: „Was dient mir jetzt am meisten?“ Zuerst erledigt wird dann nicht das, was andere erwarten, sondern was mich am meisten entlastet. Das kann durchaus dasselbe sein, entscheidend ist aber der Perspektivenwechsel von äußeren Erwartungen zu inneren Bedürfnissen.
… hilft, mit anderen einfühlsamer umzugehen
Die Fokussierung auf unser Inneres dient nicht nur dazu, dass wir unseren eigenen Wert sehen und anerkennen, sondern sie stärkt zugleich unser Einfühlungsvermögen. Denn die zweite Grundvoraussetzung für einen wertschätzenden Umgang miteinander ist, dass wir uns in andere einfühlen können. Dazu müssen wir gar nicht immer wissen, was tatsächlich in ihnen vorgeht. Es genügt schon anzuerkennen, dass auch sie ureigene Bedürfnisse – und Bedrängnisse – haben. Von dem italienischen Filmregisseur Carlo Mazzacurati stammt der Satz: „Jeder Mensch, dem du begegnest, kämpft einen Kampf, über den du nichts weißt. Sei freundlich, immer!“ Einen Menschen wertzuschätzen bedeutet ja gerade nicht, ihn zu bewerten, sondern ihm seinen einmaligen Wert zuzusprechen. Wertschätzung ist, sagt Anselm Grün, „der Ausdruck, dass ich in jedem Menschen eine unantastbare Würde erkenne.“ Dass wir unsere Wertschätzung auch tatsächlich so äußern können, dass unser Gegenüber – und auch wir selbst – gestärkt daraus hervorgehen, dazu helfen uns fünf innere Haltungen, die Anselm Grün formuliert hat:
Die fünf Haltungen der Wertschätzung
Respekt
Die lateinische Wurzel dieses Wortes lautet „respicere“ und bedeutet „zurückschauen, immer wieder hinschauen“. Im Deutschen hat sich die Bedeutung jedoch zur Achtung vor dem anderen verschoben, die begleitet sein kann von dem Gefühl der Ehrfurcht. Und wenn wir Respekt vor einer Sache haben, spielt sogar ein Fünkchen Angst mit hinein. Als Haltung für einen wertschätzenden Umgang rückt „Respekt“ jedoch wieder näher an den ursprünglichen Wortsinn heran. Dann heißt es wie Anselm Grün es sagt: „Ich verlasse mich nicht auf meinen ersten Blick auf den anderen. Ich lege einen Menschen durch meinen ersten Eindruck nicht fest. Ich gehe nochmals auf ihn zu, um in Ruhe mit ihm zu sprechen.“ Ich nehme meine (Vor-)Urteile zurück, „um von Neuem aufmerksam hinzusehen, wer dieser einmalige Mensch wirklich ist.“
Höflichkeit
In Gestalt angelernter Benimm-Regeln mag sie verstaubt, formell und steif wirken. Doch wenn sie aus dem Herzen kommt, wirkt sie befreiend. Dann behandle ich meine Mitmenschen als königlich, weil ich ihre unantastbare Würde anerkenne. Der Religionsphilosoph Romano Guardini stellt fest: „Die Höflichkeit schafft freien Raum um den anderen. Sie erkennt im anderen das Gute und lässt ihn fühlen, dass er geschätzt wird.“ Sie ist „Haltung, Gebärde, Handlung, die nicht nur Zwecke erfüllt, sondern einen Sinn ausdrückt, … eben den der menschlichen Würde.“
Dankbarkeit
„Dem anderen zu danken, ist eine Art, ihn bedingungslos anzunehmen“, betont Anselm Grün. Denn wenn wir jemandem danken, dann knüpfen wir daran nicht die Auffassung, dass mit ihm etwas nicht stimmt, oder gar die Erwartung, dass er sich ändern muss. „Im Danken erkenne ich seinen Wert an und lasse seinen Wert für mich da sein.“ (Was wiederum bedeutet, dass ich auch mir selber gegenüber anerkenne, dass ich des Wertes des anderen würdig bin.) Aber was, wenn das Danken schwerfällt, weil unser Gegenüber so schwierig ist? Im frühen Mönchtum gab es die Übung: „Ich danke dem, der mich nervt.“ Denn der schwierige Mitmensch deckt mir meine eigenen Schattenseiten auf – nicht damit ich sie bekämpfe, sondern damit ich sie annehme. In der Psychologie gilt der Grundsatz: „Ändern kann ich nur, was ich angenommen habe.“ Meine Schattenseiten zu bekämpfen, führt nur zu Selbstzerfleischung. Wenn ich hingegen versuche, dankbar dafür zu sein, wie ich bin, kann ich etwas in mir verwandeln. Auch mein Gegenüber fühlt sich durch meine Dankbarkeit bedingungslos angenommen. Er kann das Gute, das ich in ihm sehe, auch selber sehen und fühlt sich ermutigt, es immer mehr zu verwirklichen. Anselm Grün bringt es auf den Punkt: „Danken kommt von denken. Wer richtig denkt, der ist dankbar.“
Freundlichkeit
Zu wem ich freundlich bin, den behandle ich wie einen Freund. Das heißt nicht, dass aus jeder Begegnung eine dauerhafte Beziehung werden soll. Seinem ursprünglichen Wortsinn nach heißt Freund „der Liebende“ und bezeichnet einen „freien“, also zur Sippe gehörenden, den anderen lieben, erwünschten Menschen. Durch Freundlichkeit zeige ich meinem Gegenüber, dass ich ihn als einen freien, wertvollen Menschen schätze und ihm vertraue. Ich biete sozusagen für die Dauer unserer Begegnung meine Freundschaft an. Folgende Übung hilft, das in die Praxis umzusetzen:
Übung: Bewusst Menschen begegnen
Nimm dir heute vor, den Menschen, die du triffst, ganz bewusst zu begegnen. Es wird Begegnungen geben, auf die du dich freust, und Begegnungen, die dir schwerfallen. Befreie dich von den Sorgen der schweren Begegnungen, und traue ihnen zu, dass auch sie wichtig für deinen heutigen Tag sind. Begegne allen Menschen unvoreingenommen und achte darauf, allen Wertschätzung entgegenzubringen. So kannst Du erfahren, dass auch Du mit Wertschätzung behandelt wirst.
Eine „Einsteigervariante“ dieser Übung hat die alleinerziehende Mutter Patricia für sich entwickelt. Als sie entdeckte, wie rasch sie mit negativen Urteilen über andere bei der Hand ist, die noch dazu meist auf Äußerlichkeiten beruhen, nahm sie sich Folgendes vor: Immer, wenn sie sich wieder bei einem solchen Urteil erwischt, will sie sofort an derselben Person etwas Schönes finden. Am meisten überrascht hat sie, wie leicht es war, noch am „unmöglichsten“ Menschen Schönheit zu entdecken. (Übrigens: Patricias Übung funktioniert auch ausgezeichnet mit uns selber.)
Anerkennung
Hier kommt es vor allem darauf an, was passiert, bevor sie ausgesprochen wird, nämlich, so Anselm Grün, „dass ich einen Menschen nicht nur mit meinen Augen sehe, sondern das, was meine Augen sehen, innerlich wahrnehme und bedenke und zu erkennen suche …. Und damit er meine innere Anerkennung erfahren kann, spreche ich sie aus.“ Dies gelingt aber nur, wenn ich mich auch selbst anerkenne, „wenn ich mich an die eigene Würde erinnere und … die Würde des anderen in mich eindringen lasse.“ Wer andere anerkennt, nimmt sich nichts weg, von seiner Würde. „Im Gegenteil, er teilt seine Würde mit der des anderen.“ Dies zeigt: Wie alle wirklich wichtigen Dinge, ist auch Wertschätzung im Grunde einfach. Wir brauchen dazu nicht viel, nur Aufmerksamkeit, einen offenen Blick für uns selbst und die anderen sowie den Mut, das, was wir fühlen, auch auszusprechen.
Astrid Ogbeiwi
Zum Weiterlesen: Anselm Grün, “Wertschätzung”, Vier-Türme-Verlag , 10 Euro