Der Zwang, immer gut drauf zu sein, nimmt stetig zu, während sich Depressionen zur Volkskrankheit ausweiten. Doch nicht jede Verstimmung muss gleich eine schwere Krankheit sein. Auf die Idee, dass sich traurig, ängstlich oder unruhig zu fühlen zutiefst menschlich ist, kommen wir dabei immer weniger.
Du brauchst keine Angst zu haben“, beruhigen wir das weinende Kind im Dunklen. „Freu dich nicht zu früh“, warnen wir den blauäugigen Teenager. „Nicht traurig sein, wir besorgen eine andere“, so trösten wir das Kind nach dem Verlust der Puppe. Die Botschaft lautet: Du hast gerade die falschen Gefühle. Angst ist überflüssig. Zu früh gefreute Freude ist schlecht investierter Gefühlshaushalt. Einen Verlust braucht man nicht zu betrauern, man kann ihn ersetzen. Richtig ist: angenehme Gefühle zu haben und unangenehme loszuwerden.
Vom Haben und vom Sein
Der Psychoanalytiker Erich Fromm wies in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hin, dass unsere Gesellschaft einen Wandel vom Sein zum Haben vollzogen hat. Wir betrachten Gefühle als zielorientierte Objekte, die wir wie Aktien halten oder abstoßen können: Spätestens nach ein paar Wochen sollen wir die Trauer über den Tod eines Angehörigen beenden, auch in ausweglosen Situationen positiv denken und jede große oder kleine Lebenskatastrophe als Herausforderung sehen. Wer das nicht schafft, hat sich nicht genug angestrengt.
Nachts liegen wir dann grübelnd im Bett und entwerfen Pläne, wie wir das Leben endlich in Griff kriegen. So gesellt sich zur Erschöpfung eines anstrengenden Tages die traurige Erkenntnis, nicht nur bei der To-Do-Liste versagt, sondern auch den ganzen Tag mit dem falschen Gefühl verbracht zu haben. Auf die Idee, dass sich traurig, ängstlich oder unruhig zu fühlen zutiefst menschlich ist, kommen wir nicht.
Unangenehme Gefühle – ein Fehler im System
Im Alltag lassen wir uns entweder von unangenehmen Gefühlen überrollen oder wir unterdrücken sie. Beide Methoden sorgen für gesundheitliche Gefahren. Wutausbrüche steigern das Herz- und Hirninfarktrisiko, erhöhen die Zuckerwerte und schwächen das Immunsystem. Doch auch wer nicht bei jeder Kleinigkeit aus der Haut fährt, sondern aufkeimenden Ärger sofort in den Keller schickt, steht nicht besser da. Der Ärger übt im Keller Gewichtheben. Unmut in sich hineinzufressen kann zu Magenbeschwerden, Unruhe, Nervosität und Gereiztheit führen. Auch Depressionen und andere psychische Erkrankungen gelten als mögliche Folge.
Von klein an haben wir gelernt, gegen unangenehme Gefühle Widerstand zu leisten. Niemand hat uns beigebracht, wie wir uns ihnen zuwenden können. Denn die Erfahrung lehrt, dass Gefühle keineswegs freiwillig das Feld räumen, nur weil wir sie nicht „haben“ wollen.
Im Gegenteil: Unsere Abwehrmaßnahmen führen dazu, dass sich schwierige Gefühle schnell in destruktive verwandeln. Trotzdem halten wir verzweifelt am Irrglauben fest, dass nur angenehme Gefühle angemessen sind, während unangenehme als Fehler im System gelten.
Zum Weiterlesen: Ulrich Hegerl/ Svenja Niescken, Depressionen bewältigen, TRIAS Verlag, 19,99 Euro.
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(November/Dezember 2021)