Weisheit des Herzens

„Hör auf dein Bauchgefühl!“ „Der Kopf weiß, wo es lang geht!“ Ja, was denn nun? Schon der kleine Prinz wusste, dass das Wesentliche für das Auge unsichtbar ist und nur das Herz uns den richtigen Weg zeigt.

Wer kennt es nicht, dieses innere Tauziehen? Da schreit der Bauch „Ich will!“, und der Kopf hält mit einem strengen „Lass das!“ dagegen. Egal ob es sich dabei um die zweite Portion Dessert, ein sündteures Kleid oder einen Seitensprung handelt: Gefühl und Verstand zerren in entgegengesetzte Richtungen. Welche Seite gewinnt bei Ihnen in der Regel den Wettkampf? Lässt sich der Kopf von der Gier überrumpeln und das Vanilleeis füllt bereits den Magen, bevor die Vernunft einschreiten konnte? Oder hat der Verstand sämtliche Gefühle in den Keller verbannt, sodass Sie sich Ihrer persönlichen Bedürfnisse und Interessen gar nicht mehr bewusst sind? Tendieren Sie zum Bauch- oder Kopfmenschen?
„Die beiden Instanzen Bauch und Kopf liegen oft miteinander im Streit“, weiß auch der Neurowissenschaftler, Psychiater und Buchautor Raphael M. Bonelli. „Das liegt in der Natur der Sache: Beide haben ganz unterschiedliche Blickwinkel auf einen Sachverhalt.“ Angelehnt an Siegmund Freuds Theorie vom Es, Über-Ich und Ich verwendet Bonelli die Metaphern Bauch, Kopf und Herz, um die verschiedenen Instanzen in uns zu verbildlichen.

Der Bauch ist unsere Basis

Mit Bauchgefühlen beginnt das menschliche Leben. Ein Neugeborenes ist laut Freud „reines Es“. Vom Vernunftgebrauch unberührt möchte es trinken, warm und trocken sein, Körperkontakt erleben und schlafen, wenn es müde ist. Hunger und Schmerz will es vermeiden. Kurz gesagt: Bauchgefühle sind auf Lustmaximierung und Unlustvermeidung ausgerichtet. Das ändert sich auch nicht, wenn wir älter werden. Der Bauch lebt ausschließlich im Hier und Jetzt, kennt weder Moral noch Logik, und es fehlt ihm der Sinn für Ordnung und Maß. „Dabei soll der Bauch keinesfalls als Feind verstanden werden“ betont Bonelli. „Der Bauch ist essenziell für unser Leben. Er ist die Basis, die Grundlage. Wird er jedoch zu unserem alleinigen Leitprinzip, werden wir kein Glück finden.“ Alleiniger Sinn und Zweck des Bauchs ist, uns vor Gefahren zu warnen und auf Nützliches und Erfreuliches hinzuweisen.
Bauchgefühle begleiten uns ein Leben lang. Bonelli unterscheidet zwischen affirmativen Gefühlen, die „Ja“ sagen, wie Gier und Lust und aversiven, und solchen die „Nein“ sagen, wie Angst und Hass. Diese Gefühle differenzieren nicht, sie sind wankelmütig, unbeständig und können einander widersprechen. Niemand käme auf die Idee, einem Säugling vorzuwerfen, rücksichtslos zu sein, wenn er schreiend und quengelnd seine Bedürfnisse kundtut. Benehmen wir uns allerdings als Erwachsene noch genau so, handeln wir ausschließlich nach eigener Bedürfnisbefriedigung, sind wir für unser Umfeld schwer zu ertragen. Wenn wir uns von heftigen Gefühlen überfluten lassen, und unfähig sind, einen „kühlen Kopf“ zu bewahren, treiben wir ziellos und sinnfrei herum wie eine Nussschale im Ozean.

Im Reich der Vernunft

Die Antithese zum Bauch ist der Kopf. Diese zweite Instanz erlaubt uns, anders als den vom reinen Instinkt geleiteten Tieren, unsere Emotionen, Triebe und Impulse zu überprüfen. Die Fähigkeit zur Vernunft ermöglicht es uns, langfristig zu planen, auch einmal bewusst auf kurzfristiges Vergnügen zu verzichten oder sich irrationalen Ängsten bewusst zu stellen. Der Kopf ermöglicht uns, Gier, Angst und Aversion zu steuern und zu bremsen. Anders als das freudsche Über-Ich, das verinnerlichte elterliche und gesellschaftliche Verbote und Einschränkungen ungeprüft übernimmt, kann Bonellis Kopf-Metapher Erfahrenes und Gehörtes sehr wohl kritisch beurteilen, sodass wir uns nicht hilflos im Netz dieser Zwänge verheddern. Wir können überlegen, ob es nützlich ist, das nächste Tortenstück in uns hineinzustopfen, wobei wir uns an das unangenehme Völlegefühl beim letzten Mal erinnern. Und anders als der zügellose Bauch, hat der Kopf zumindest die Möglichkeit, aus Schaden klug zu werden.

Der Kopf wägt ab und analysiert

„Der Kopf als Verstand des Menschen schafft Distanz, hinterfragt unsere Bauchgefühle, vergleicht, wägt ab und analysiert“, sagt Bonelli. „Doch auch eine unausgeglichene Kopflastigkeit führt zu Problemen. Solche Menschen sind oft kalt, abweisend und berechnend, haben Probleme, sich zu öffnen oder Gefühle zuzulassen. Sie tun sich schwer mit Menschen, finden oft keinen Partner und sind in der Kinderbetreuung eine Katastrophe.“ Fallen wir von einem Extrem ins andere, unterdrücken und verleugnen wir Bauchgefühl, Trieb und Intuition, geben wir uns dem Irrglauben hin, das Leben sei allein mit der Ratio zu meistern.

Wegweiser deines Lebens

Schon in der Schule haben wir gelernt, dass These und Antithese allein nicht ausreichen, um einen guten Aufsatz zu schreiben. Auch Bauch und Kopf bedürfen deshalb einer Synthese. Erst wenn sich zu diesen beiden Polen das Herz hinzugesellt, eröffnet sich die Chance, ein gutes Leben zu führen. Auch anatomisch befindet sich das Herz zwischen Bauch und Kopf. Und worauf deuten wir, wenn wir uns selbst meinen? Sagen wir „Ich bin’s“, zeigt der Finger weder auf den Unterbauch noch auf die Stirn, sondern instinktiv auf den Brustraum.

Zum Weiterlesen: Raphael Bonelli, Bauchgefühle, Goldmann Verlag, 13 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 4/2024

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