Mit Aufschieberitis haben wir alle mal zu kämpfen. Zeit ist schließlich begrenzt. Wenn es Ihnen aber oft schwerfällt, wichtige Dinge zu erledigen, dann können Ihnen unsere Infos und Tipps sicher helfen.
Einige Zeitgenossen erstaunen mich immer wieder. Da werden Rechnungen grundsätzlich ad acta gelegt, weil nur die dritte Mahnung beachtet wird. Oder ein anstehender Behördengang ist über ein Jahr lang leidiges Thema, das aber bis heute nicht angegangen wurde … (zum Glück war es letztendlich kein wichtiger Anlass). Scheinbar hat jeder Mensch seine eigene Hemmschwelle, bis er meint, aktiv werden zu müssen.
Zwischen Aufschieberitis und Prokrastination, wie der fachmännische Begriff lautet, gibt es daher auch einige Unterschiede. Per Definition kommt es vor allem darauf an, wie gravierend und regelmäßig sich das Problem im eigenen Leben niederschlägt.
Das Phänomen Aufschieberitis
Prokrastination (lateinisch: pro = für, crast = morgen) ist ein Begriff aus dem klinischen Bereich. Er bezeichnet das mindestens über ein halbes Jahr kontinuierliche Aufschieben von Aufgaben, die erledigt werden müssten und für die auch genügend Zeit da wäre. Wer wirklich unter Prokrastination leidet, empfindet zudem einen starken Leidensdruck und hat bereits klare Nachteile durch das Aufschieben erfahren.
Das Ganze hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich ausgeweitet. Man könnte es als eine Art Zeitgeistphänomen bezeichnen. Studien zeigen, dass jeder dritte Deutsche Probleme mit Prokrastination hat. Besonders stark vertreten sind in dieser Gruppe Studenten. 70 Prozent von ihnen können Aufgaben kaum zeitnah erledigen. Einige Unis haben deshalb sogar spezielle Prokrastinations-Beratungen eingerichtet.
Was wird aufgeschoben?
Dass besonders Studenten betroffen sind, ist vielleicht nicht verwunderlich. Anstatt das Jungsein genießen zu können, steht für junge Leute auf der Höhe ihrer Lebenskraft und -lust das gestraffte Bachelor-Programm mit Lernen, Klausuren, Prüfungen und Hausarbeiten auf dem Tagesplan. Es sind generell die unangenehmen Dinge, die aufgeschoben werden. Dinge, bei denen man etwas abliefern muss, geprüft oder untersucht wird und ungewohnte Leistungen erbringen soll. Die typischen Aufschiebethemen zeichnen sich nicht gerade durch Beliebtheit aus. Da finden sich Steuererklärungen, das Bezahlen von Rechnungen, Pflichttelefonate, Erledigungen bei Behörden und Arzt- sowie Zahnarztbesuche. Spaß? Fehlanzeige! Vielleicht sind Menschen, die zur Prokrastination neigen, also eigentlich nur die Genießer, die Lebemänner- und -frauen unter uns? Oder ist auch etwas Anderes mit im Spiel?
Warum wird aufgeschoben?
Annette Bauer, die als Coach mit emotionsbezogenen Methoden arbeitet, wollte mehr über das Phänomen des Aufschiebens herausfinden. Sie lud Menschen zu Coachings und Interviews ein, die von sich selbst behaupteten, unter Prokrastination zu leiden. Sie fand heraus, dass es für die Bandbreite von Aufschiebeverhalten mehr als eine Ursache gibt.
Da sind einmal die recht einleuchtenden Gründe wie: Die zu erledigenden Dinge sind unangenehm und komplex. Überkomplizierte Organisationsstrukturen überfordern viele. In einer Zeit, wo die Digitalisierung alles beschleunigt, die Flut an Information riesig ist und Hilfe nur noch über künstliche Intelligenzen oder Google erreichbar ist, wird es zunehmend schwierig, Prioritäten zu setzen und sich zu orientieren. Der Wunsch nach Übersichtlichkeit und Freiräumen wird größer.
Dann gibt es noch die Perfektionismusfalle. Immer mehr Menschen neigen dazu, alles perfekt machen zu wollen. Bei Stress und Zeitdruck kommen sie jedoch kaum hinterher, weil sie für ihre Erledigungen länger brauchen – es geht schließlich immer noch besser. Sie kommen dann einfach nicht hinterher und müssen Dinge aufschieben. Eine andere Reaktion auf Beschleunigung und Anonymisierung ist, dass Menschen antriebsloser werden. Gefühle von Sinnlosigkeit und Vereinsamung können sensible Gemüter immer weiter verharren lassen. Selbst alltägliche Verrichtungen werden zur Last. Bei chronischer, also dauerhafter Antriebslosigkeit können auch ein Burnout oder eine verdeckte Depression dahinterstecken.
Psychologisch betrachtet
Viele Arten von Prokrastination haben für Annette Bauer mit Vorerfahrungen und emotionalen Erinnerungen zu tun, die das Handeln unbewusst steuern. Sie sieht eine Ursache dieser Blockaden im Phänomen der „erlernten Hilflosigkeit“ begründet. In der Kindheit konstruieren wir unsere grundlegenden Glaubenssysteme. Sind diese durch negative Erfahrungen geprägt, kann uns das bis in die Gegenwart blockieren. Bei der erlernten Hilflosigkeit ist die Erfahrung vor allem, dass das eigene Handeln wirkungslos ist. Aber kein Grund zur Beunruhigung: Wir können lernen, mit diesen Mustern und Herausforderungen umzugehen.
Eine Frage des Charakters
Tatsächlich neigen bestimmte Charaktertypen mehr zum Aufschieben als andere. Nehmen wir z.B. einen Ordnungstyp, einen Hinterfrager und einen Rebellen. Der erste Typus wird wahrscheinlich automatisch seine Pflichten erfüllen. Ein Rebell aber wird sich nur ungern aufgepfropften fremden Strukturen beugen. Und ein Hinterfrager kann durch sein vieles Fragen und Anzweifeln in einem Wirrwarr aus Informationen enden, das dem zielgerichteten Handeln entgegensteht. Der Philosophieprofessor John Perry aus Stanford kannte das Phänomen lebenslang. 2012 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Die Kunst des Prokrastinierens: Eine Anleitung für effektives Bummeln, Trödeln, Rumhängen und Aufschieben“. Was ihm anfangs Probleme bereitete, hat er – mit viel philosophischem Geschick und nach jahrelangem Zaudern – zu einer Tugend gemacht.
Die Medaille hat also, wie so oft, zwei Seiten. Für manche Menschen funktioniert Aufschieben mit ein paar Anpassungen wahrscheinlich besser, als sich charakterlich umzukrempeln. Und viele Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Nicht umsonst heißt es: „Gut Ding will Weile haben“. Wenn es um Beziehungen geht, ist das richtige Timing beispielsweise essentiell. Hier muss man nicht immer gleich alles erledigen oder mit der Tür ins Haus fallen! Auch wenn es um Kreativität geht, erreicht man mit Pflichterfüllung weniger. Eine absichtliche Ablenkung, um den Fokus auch mal auf etwas anderes zu lenken und zu erweitern, ein geduldiges Warten auf Inspiration, ein Reifenlassen von Ideen: Dafür muss es Freiräume geben. Selbst im Arbeitsalltag ist das Vertagen bei schwierigen Verhandlungen oft die beste Lösung. Erhitzte Gemüter sind am nächsten Tag meist viel entspannter.
Gina Janosch
Tipps für schwerwiegendere Fälle
• Gestehen Sie sich Ihr Problem ein. Es bringt nichts, die Aufschieberitis zu verharmlosen, wenn sich Mahnungen diverser Absender seit einem Jahr auf Ihrem Schreibtisch stapeln oder die Kollegen Sie stets zehn Mal an eine Sache erinnern müssen. Ihre Prokrastination ist in diesem Fall zu sehr mit Nachteilen behaftet, als dass Sie noch so weitermachen könnten.
• Beginnen Sie, sich selbst genau zu beobachten. Welche Emotionen und Körperempfindungen machen sich in Ihnen breit, wenn eine Erledigung wieder einmal in Ihr Blickfeld rückt? Machen Sie sich mit der Praxis der Achtsamkeit vertraut. Hierbei beobachten und erspüren Sie Ihre Gedanken und Emotionen, ohne zu bewerten oder einzugreifen. Bleiben Sie bei den Gefühlen, bis sie sich abschwächen.
• Suchen Sie sich Unterstützung. Es gibt verschiedene Ansätze aus der emotionalen Psychotherapie-
Arbeit, die hier helfen können. Meist liegen die emotionalen Ursachen für Prokrastination in unbewussten Erfahrungen, die Sie selbst nicht leicht erkennen können. Emotionsbezogene Coaching-Methoden sind empfehlenswert. Annette Bauer empfiehlt z.B. die wingwave-Methode oder die provokative Systemarbeit. wingwave arbeitet mit der Augenbewegung in der REM-Phase und die provokative Systemarbeit mit Humor.
Zum Weiterlesen: Annette Bauer, Auf die lange Bank, Junfermann Verlag
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