Vom Zauber des Neuanfangs

Jeder Neuanfang kostet Überwindung, denn wir müssen Vertrautes verabschieden, an unsere eigenen Träume glauben und den ersten Schritt in das Unbekannte wagen. Doch dann passiert das Magische: Wir verwandeln uns in eine kraftvollere, freiere und lebendigere Version unserer selbst.

Beinah hätte ich sie übersehen – die kleine, dunkelbraune Raupe auf dem fast ebenso dunkelbraunen Waldboden. Ich bleibe stehen und sehe ihr dabei zu, wie sie sich wellenförmig, ihren Körper zusammenziehend und auseinanderstreckend, langsam ihren Weg bahnt, vorsichtig tastend, Millimeter für Millimeter. Wie mühselig es sein muss, dieses Raupendasein, denke ich, was für ein anstrengender Kampf. Kleine Steinchen sind riesige Hindernisse, kurze Strecken sind elend lange Reisen. Und ich stehe da, blicke von oben auf sie herab und denke daran, dass sich diese kleine, unscheinbare, braune Raupe, die da unten auf dem Waldboden mühselig ihres Weges geht, irgendwann zurückziehen, verpuppen und langsam verwandeln wird, Zelle für Zelle, Schicht für Schicht. Und eines Tages wird sie ihren Kokon verlassen, ihre schimmernden Flügel ausbreiten und als Schmetterling ein neues Leben beginnen. Frei und leicht und bunt.

Zeiten des Wandels

Neuanfänge sind magisch. Es sind Zeiten des Wandels, der Veränderung, der Öffnung. Unsere Welt wird groß und weit, wir werden wach und vollkommen präsent. In Zeiten des Neuanfangs gewinnt unser Leben an Lebendigkeit zurück, an Farbe und Intensität.
Ich kann mich noch gut an meinen ersten großen Neuanfang erinnern, als ich in eine fremde Stadt in einem anderen Land gezogen bin. Es war ein goldener Herbst, die Sonne schien mit sanfter Kraft, die Bäume leuchteten in einem warmen Orange und der schon kühle Wind wirbelte die raschelnden Laubblätter auf. Und ich in dieser Stadt, ganz frei. Niemand kannte mich, wusste woher ich kam und wer ich war. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine dicke Schicht aus schwerem Beton abgeklopft. Lebendig und leicht. Alles schien wie in der Schwebe, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Und über allem lag der Schimmer des Neuen, des Abenteuerlichen, selbst auf den sonst so alltäglichen Dingen.

Die wahre Kunst des Lebens

Doch wir müssen nicht unbedingt auswandern, unseren Job wechseln, eine neue Liebe finden oder eine Familie gründen, um den Zauber des Neuanfangs zu erleben. Es gibt auch die kleinen Neuanfänge. Wir selbst wählen, wann etwas Neues beginnt. Jedes Jahr, jeder Monat, jeder Morgen und sogar jeder Moment kann ein Neuanfang sein. Sind wir achtsam im Hier und Jetzt präsent, dann können wir in jedem Augenblick neu wählen, wohin wir gehen und wie wir handeln möchten. Wir können uns immer wieder neu dazu entscheiden, unsere Sinne zu öffnen und die Wunder der Welt wahrzunehmen, als sähen wir sie zum ersten Mal. Genau darin besteht die wahre Kunst des Lebens. Denn eigentlich geht es gar nicht so sehr um die großen Wechsel, die neuen Orte oder Erfahrungen an sich, sondern um die Gefühle, die wir dabei empfinden: die Freude, das Staunen, die Lebendigkeit. Und diese Gefühle entstehen, weil wir die Welt anders wahrnehmen. Wir sind wacher, präsenter, in Kontakt mit uns, dem Leben und der Welt. Es ist unsere Haltung, die anders ist. Und diese Haltung können wir bewusst einnehmen, wir können sie wählen, an jedem Tag, in jedem Moment. Um Neues zu beginnen, müssen wir Altes loslassen. Loslassen und Neuanfangen sind zwei Seiten derselben Medaille. Es gibt das eine nicht ohne das andere: Nur wenn wir loslassen, können wir auch neu beginnen.

Loslassen

Die Natur macht es uns vor: Erst wenn der Winter zu Ende gegangen ist, kann der Frühling kommen, und erst wenn die Bäume ihre alten Blätter abgeworfen haben, können junge Knospen sprießen. Alles ist stets im Wandel, ist Entstehen und Vergehen. Und auch in unserem Leben müssen wir alte Abschnitte, nahestehende Menschen oder vertraut gewordene Orte loslassen, damit etwas Neues kommen kann.
Doch oft fällt uns das Loslassen schwer. Denn meist sind die Dinge nicht nur schwarz oder weiß: eine Beziehung, die uns nicht mehr guttut, ein Job, der uns nicht mehr erfüllt, oder ein Ort, der uns nicht mehr entspricht – sie alle haben meist auch schöne Aspekte und positive Seiten. Loszulassen bedeutet dann eben auch, um das Gute zu trauern. Aber nur weil es schmerzt, heißt das nicht, dass es nicht richtig ist. Loslassen darf weh tun. Und Loslassen darf Angst machen. Denn es bedeutet, die Grenze zu überschreiten zwischen bekannt und unbekannt, vertraut und fremd. Aber all die Sorgen und Befürchtungen, was schiefgehen könnte, sollten uns nicht davon abhalten, den Schritt zu wagen. Wie traurig wäre es doch, wenn die Raupe das ihr Bekannte nicht losließe, weil sie das Unbekannte fürchtet – denn dann würde sie nie zum Schmetterling werden. Was sich für uns im Moment anfühlt, wie das Ende der Welt, kann der wunderbare Beginn einer ganz neuen sein.

Träumen

Jeder Neuanfang beginnt mit einer Idee, mit einem Gedanken. Ein Haus wird gezeichnet, bevor man es baut. Eine Reiseroute wird geplant, bevor man sie geht. Nichts wurde erschaffen, ohne vorher eine Vorstellung gewesen zu sein. Unsere Träume sind die Brücke von der Gegenwart in die Zukunft. Und nur über diese Brücke erreichen wir unser Ziel.
Besonders am Anfang sind Träume aber oft noch zart und verletzlich und können uns leicht durch andere genommen werden. Manchmal reichen ein abfälliger Kommentar, ein müdes Kopfschütteln, ein spöttisches Lachen. Doch was andere denken, sagt meist mehr über sie selbst aus als über unseren eigenen Weg. Wir dürfen fremde Meinungen dort lassen, wo sie hingehören: bei den anderen. Wir dürfen unsere Träume vor Gegenwind schützen und sie hüten, wie einen wertvollen Schatz. Auch die Raupe zieht sich für ihre Verwandlung in den Kokon zurück und schützt sich vor der Außenwelt. Veränderung muss nicht laut und radikal und plötzlich sein. Sie darf leise und sachte sein und im Stillen beginnen. Denn auch wenn die Veränderung im Außen noch nicht sichtbar ist, passiert im Innen bereits ganz viel.
Nach der Verwandlung muss sich der junge Schmetterling erst mühselig durch die winzig kleine, enge Öffnung am Ende des Kokons zwängen, damit die Flüssigkeit von seinem Körper abgestreift wird. Wenn er das geschafft hat, bleibt er noch eine Weile an der Spitze des Kokons hängen, damit die restliche Feuchtigkeit aus seinen Flügeln weicht. Doch dann, wenn er bereit ist, macht er den ersten Flügelschlag. Und ist vollkommen frei.

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 1/2025

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