Vom Glück, Pech zu haben

Auf den ersten Blick ist Denise Schindler der klassische Siegertyp. ­ Doch es gibt etwas, das sie von anderen Siegern unterscheidet. Ein ungewöhnliches Schicksal, das sie mit ihrem typischen ­Humor gern so zusammenfasst: „Ich finde, ein Beinbruch hätte es bei mir auch getan, aber so habe ich eben als geborene Zweibeinerin die Aufgabe angenommen, mit eineinhalb Beinen durch die Welt zu gehen.“

Alter von zwei Jahren musste bei Denise nach einem Unfall der rechte Unterschenkel amputiert werden, ihr linker Fuß ist nur eingeschränkt funktionsfähig. Gerade noch an der Hand der Mutter zu sein und dann von einer Straßenbahn mitgerissen zu werden, hätte eine solide Basis für ein Lebenstrauma werden können. Wurde es aber nicht. Denise erinnert sich nicht an das Unglück. Wie durch ein Wunder hat ihr Gehirn das Ereignis ausgelöscht. Und dies ist nicht ihr einziges Glück. Der Zusammenprall, sagt sie heute, habe ihr Leben zwar ein bisschen ungemütlicher gemacht, aber nicht zerstört. Im Gegenteil. Ihre beste Zeit begann nach dem völligen Begreifen ihrer Behinderung.
Die heute 36-jährige Denise Schindler ist eine gefeierte Radrennfahrerin, dreifache Weltmeisterin und Medaillengewinnerin bei den Paralympics. Ob sie es ohne ihr Handicap bis nach Olympia geschafft hätte? Sie bezweifelt es. Ganz sicher aber war der Zusammenstoß mit der Straßenbahn für sie das beste Unglück, das ihr je passiert ist. Ohne die Behinderung, davon ist sie felsenfest überzeugt, hätte sie ihr Ziel, eine der ganz Großen ihres Sports zu werden, niemals erreicht.

Das Leben ist schön und schwierig

Was ist das Geheimnis dieser Frau, die weit mehr als nur das Beste aus ihrem Schicksal gemacht hat? Willensstärke, Kraft, Ausdauer und Fairness allein können es nicht sein. Ihr besonderes Merkmal, das weiß sie heute, ist ihre ausgeprägte Resilienz. Dieses Zauberwort der Stehaufmenschen bezeichnet die Fähigkeit, nach Schicksalsschlägen wieder aufzustehen und vielleicht sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen, frei nach dem Motto von Friedrich Nietzsche „Was uns nicht umbringt, macht uns stark.“ An Gefahren wachsen und wetterfest werden für die Stürme des Lebens, nach Entwurzelungen wieder an Boden gewinnen und in noch schönerer Form zur Blüte gelangen. Aus einer Wunde ein Wunder entstehen lassen. Genau davon erzählt die Geschichte dieser ungewöhnlichen Frau, die ihr spannendes Leben für kein Geld der Welt gegen ein anderes eintauschen möchte. Niemand ist den äußeren Umständen ausgeliefert, niemand muss resignieren. Das ist Denise Schindlers feste Überzeugung, auch wenn sie ihre Lebensgeschichte nicht 1:1 auf andere übertragen kann. Resilienz ist für sie so etwas wie eine seelische Ritterrüstung. Teile davon bekommt man durch glückliche äußere Umstände vom Leben geschenkt, die anderen kann man erlernen.
Denise Schindler hat sich nie so zermürbende Fragen gestellt wie „Warum gerade ich?“ Stattdessen hat sie ihr Schicksal umarmt. „Welches Glück ich doch hatte, diesen Unfall zu überleben! Jeden Morgen die Augen aufschlagen und die Welt auf eineinhalb Beinen erkunden zu dürfen. Akzeptanz – in diesem Wort steckt das Wort Tanz. Ein schönes Wort, ein Stück Leichtigkeit bei einem schweren Thema. Ich habe an mich geglaubt und allen gezeigt, dass Sport mein Leben ist, dass ich mehr bin als meine Behinderung. Ich bin stolz auf das, was ich, Stand heute, erreicht habe, aber auch ich muss täglich an mir arbeiten.“

„Man muss lernen, im Regen zu tanzen“

Denis Schindlers großes Glück: Sie hatte keine Jammereltern, sondern Tateltern. Die gaben sie nicht in die Obhut spezieller Einrichtungen für Behinderte, sondern brachten sie mit Menschen ohne körperliches Handicap zusammen. In ihrer Klasse musste sie aushalten, die einzige mit Beinprothese zu sein, auch zuhause wurde sie nicht in Watte gepackt. „Natürlich hatte ich den Tisch zu decken, auch wenn dabei einige Tassen runterfielen. Ich musste staubsaugen und abspülen, um mir Taschengeld zu verdienen, bekam keine mildernden Umstände.“ Heute versteht sie, warum ihre Eltern bei ihr auch auf gute Schulnoten geachtet haben. „Sie wussten, dass ich keinen Beruf ausüben kann, bei dem ich lange stehen muss. Deshalb sollte ich unbedingt Abitur machen, um eine größere Auswahl an Berufen zu haben.“

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 2/2022

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