Vom Glück des Nichtstuns

Auf der Couch sitzen, aus dem Fenster gucken und die Gedanken frei fliegen lassen – klingt langweilig? Nicht für unser Gehirn: denn Niksen, die holländische Kunst des Nichtstuns, entspannt und macht Studien zufolge sogar kreativ und gesund.

Die Frau sitzt im Zug und schaut aus dem Fenster. Während die anderen im Abteil auf digitale Vierecke starren, folgen ihre Augen den vorbeiziehenden Herbstlandschaften. Nebelschleier über Wiesen, vom Laub befreite Baumskelette, das Erdbraun gepflügter Felder, ein Hase hoppelt ins Gebüsch. Mit dem rhythmischen Rattern der Räder werden ihre Gedanken langsamer. Erste Regentropfen durchziehen das Fenster wie Perlenschnüre, der Blick verschwimmt. Plötzlich durchbricht eine Lautsprecheransage die Stille. „Liebe Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Landshut.“ ‚Wie lange war ich weg?‘ Die aus ihrem Dösen erwachte Frau lächelt in sich hinein.

Können wir uns nicht einfach mal hinsetzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen?

Das ist ihr ewig nicht mehr passiert: Irgendwo sitzen und mit offenen Augen vor sich hinträumen. „Wie gut das getan hat,“ denkt sie, „so ein ungeplanter Kurzurlaub für den Kopf.“ Die Ferien in Griechenland fallen ihr ein. Was hat sie die alten Männer beneidet, die vor der Taverne am Hafen saßen, das Komboloi in der Hand. Sie schauten raus aufs Meer. Hin und wieder fiel ein Wort, dann wieder minutenlange Stille. Dieses dolce far niente.

Wir Mitteleuropäer tun uns schwer mit dem untätigen Herumsitzen. An den klimatischen Bedingungen kann es nicht liegen. Wir könnten ja leicht im gemütlichen Ohrensessel sitzend die Hände in den Schoß legen und die Füße stillhalten. Oder auf dem Sofa in eine Decke gekuschelt genüsslich in den Himmel schauen. Was hindert uns also in Wahrheit daran? Ich möchte das wissen und starte einen ersten Versuch: Schreibpause!

Eine innere Instanz drängt uns, erst alles zu erledigen, bevor wir uns zurücklehnen dürfen

Auf dem Sofa liegend schaue ich aus dem Fenster und betrachte die Wolkenformationen. Doch statt im endlosen Nichts zu versinken, fesselt der Staub auf den Scheiben meine Aufmerksamkeit. Reflexartig hole ich Küchenpapier und Fensterspiritus und wische das Fenster sauber.
Fertig! Jetzt aber wirklich! Zufrieden schaue ich durch glasklare Scheiben. Da meldet sich ein kleines Hüngerchen. Zu dumm, ausgerechnet jetzt! Gedanklich gehe ich den Inhalt des Kühlschranks durch. Vielleicht sollte ich doch noch etwas einkaufen.

Da haben wir es: dieses ewige „ich muss noch schnell, eigentlich sollte ich, ich hab schon wieder nicht…“ So wie viele von uns, so sehne auch mich nach Zeit, in der es nichts zutun gibt, aber es fällt mir schwer, mir die Erlaubnis dazu zu geben. Eine innere Instanz drängt mich, erst alles zu erledigen, bevor ich mich zurücklehnen darf.
Diese typisch deutsche Mentalität: Niemals fühlt man sich gut genug. Im festen Griff der Selbstoptimierungswelle versuchen wir uns zu wettbewerbsfähigen, ergebnisorientierten Superindividuen aufzutunen. Wir machen Yoga und Pilates, fasten und entgiften, arbeiten unsere Probleme in Gesprächstherapien auf, schulen die Kreativität beim Malen und Töpfern, gehen Waldbaden oder Kuscheln mit Kaninchen. Selbst der Urlaub wird zum Effektivitäts-Marathon. Nichts gegen den Besuch von Sehenswürdigkeiten und Museen, kein Problem mit einem durch getakteten Terminplan im Luxus-Spa. Alles hat seine Zeit, aber wo bleibt das faule Herumlungern im Park? Wo das Füße-baumeln-lassen in der Hängematte? Können wir uns nicht einfach mal hinsetzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen?

Das Fehlen eines Ziels ist eine der schönsten Seiten des Nichtstuns

Ich für meinen Teil bin angetreten, das Nichtstun zu erforschen. Neurologen betonen schon lange, wie wichtig es für das Gehirn ist, den Informationsmüll regelmäßig durch gedankliche Leere zu entsorgen. Und die alten Zenmeister predigen es seit Jahrhunderten mit einem geflügelten Wort: Wie willst du Tee in eine Tasse füllen, die bis zum Rand voll ist? Eben! Auf einmal sind es die geschäftstüchtigen Holländer, die den Zeitgeist anscheinend erspürt und das Nichtstun wie aus dem Nichts zu einem neuen Lifestyle-Trend gekürt haben. Niksen heißt das bei ihnen. Niks wie nichts und Niksen als das daraus abgeleitete Verb.

Zum Weiterlesen: Olga Mecking, Niksen: Vom Glück des Nichtstuns, Kailash Verlag, 16 Euro.

Den ganzen Beitrag finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 6/2021

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