Tröste mich!

Tröste mich

Wenn wir von negativen Gefühlen überschwemmt werden, brauchen wir nicht immer eine Therapie. Manchmal tut es auch ein bisschen Trost. Doch wie man sich selbst oder andere tröstet ist eine Fähigkeit, die irgendwie verlorengegangen ist.

Jedes Jahr pilgern tausende Menschen nach Kerala in Indien, allein um sich einmal so richtig umarmen zu lassen. Und dafür nehmen sie nicht nur eine anstrengende Reise, sondern auch endlose Wartezeiten in kilometerlangen Schlangen in Kauf. Diejenige, von der sie umarmt werden wollen, heißt Mata Amritanandamayi. Ihre Anhänger nennen sie einfach Amma, was auf deutsch schlicht Mutter heißt. Ammas Liebe zu den Menschen drückt sich durch Mitgefühl aus, und Mitgefühl bedeutet für sie, die Bedürfnisse und Sorgen anderer als die eigenen anzunehmen. Und das lässt sie die Menschen am besten in einer innigen, lang anhaltenden Umarmung spüren.

Es ist diese Liebe, die die Menschen in Scharen zu ihr treibt und deren körperlicher Ausdruck eine einfache Umarmung ist. Sie berichten alle davon, dass sie sich nach Ammas Umarmung in ihrem Leben neu inspiriert, ermutigt und getröstet fühlen. Und allein dafür, um dieses Gefühl zu spüren, reisen jedes Jahr mehr und mehr Menschen nach Kerala, dem Sitz von Embracing the World („Umarme die Welt“).

Das Trösten scheint nicht mehr in unsere Zeit zu passen

Trost heißt das Gefühl, nach dem sich diese Menschen sehnen. Und scheinbar bietet unsere verkopfte, westliche Welt nicht genug davon an. Die Religionen hatten über Jahrhunderte das Bedürfnis des Menschen nach Trost sehr ernst genommen. Für sie war der Mensch ein Wesen, das des Trostes bedarf. Doch wer lässt sich noch von der Kirche trösten? Schon für den Dichter Rainer Maria Rilke stand sie im Verdacht, ein billiger „Trostmarkt“ zu sein. Es gibt heute keine Institution mehr, die an ihre Stelle getreten ist, die ihre Aufgabe vor allem darin sieht, Menschen zu trösten. Überhaupt scheint das Trösten nicht mehr in unsere Zeit zu passen. Da tut sich eine Leerstelle auf. Wir haben zwar unzählige Formen der Psychotherapie erfunden. Therapeutische Anlaufstellen, in denen wir unsere Probleme und Sorgen besprechen, bearbeiten und therapieren können, gibt es mehr als genug. Wem danach ist der kann Gestalt-, Tanz-, Verhaltens- oder auch Gesprächstherapien aufsuchen. Jeder von uns verfügt inzwischen auch über ein mehr oder weniger großes psychologisches Wissen, mit deren Halb- oder Lehrmeinungen wir unsere eigenen Sorgen und Nöte therapieren und auch auf die der anderen eingehen. Aber wer sich einfach nur nach Trost sehnt, dem ist damit wenig geholfen, denn der will seine Probleme eben nicht bearbeiten, besprechen oder irgendwie an ihnen herumdoktern. Er will sie einfach so stehen lassen, in dem Wissen, dass das Leben nicht immer leicht ist. Er braucht dann keinen Therapeuten, sondern einfach nur jemand, der ihn tröstet. Sich getröstet wissen gehört zum Leben wie atmen, essen, trinken oder schlafen. Wer Kinder hat oder sie beobachtet, versteht das am besten.

Doch es gibt eine Sehnsucht des Menschen nach Trost

Das Wort „Trost“ kommt von Treue, von Festigkeit. Viele Psychologen und Anhänger der Psychotherapie reden uns heute gerne ein, dass aller Trost nur eine Scheinwirklichkeit darstelle. Der Trost gerät heute schnell unter einen Generalverdacht, weil er nicht wirklich weiterhelfe und nichts zur Entwicklung des einzelnen beitrage, sondern nur der Problemverdrängung Tür und Tor öffne. Aber wie die Geschichte von Amma und den vielen Trostsuchenden zeigt, scheint für viele das Bedürfnis nach Trost eine Realität zu sein, das sie im Alltag nicht befriedigen können. Wenn wir uns nach Trost sehnen, dann wollen wir uns darüber vergewissern, dass es jemanden gibt, der zu uns steht, so wie wir im Moment sind und wie wir uns fühlen. Mit all unseren Sorgen und Nöten. Allein die Gewissheit, dass eine solche Person für uns da ist, kann tröstlich sein. „Wer einen findet, der ohne viel Worte auch in der schwierigsten Situation bei ihm bleibt, der ist nicht mehr ganz ungetröstet“, sagt der Benediktinermönch Anselm Grün.

Wenn wir Trost finden, gelingt unser Leben

Es gehört zu unserem Wesen, dass wir hin und wieder von traurigen Stimmungen, Melancholie, leidvollen seelischen Schmerzen heimgesucht werden, uns von Zeit zu Zeit oder in besonderen Stresssituationen einfach mal alles zu viel wird und wir uns manchmal nicht so recht wohl fühlen in den Konflikten und Problemen unseres Alltags. Doch wenn man sich mehr als ein paar Tage nur einfach traurig fühlt, interpretieren viele von uns das schon als Burnout oder Depression. Oder sie verfallen in ein maßloses Selbstmitleid. Dabei gehören die negativen Emotionen zu unserem Leben. Man muss Gefühle wie Trauer, Zorn oder Wut nicht sofort pathologisieren. Damit verurteilen wir uns selbst dazu, krank zu sein. Bei der Suche nach Trost geht es aber um eine noch tiefere Dimensionen als die, schwierige Alltagssituationen zu überstehen oder darum, was uns guttut, wenn es uns einmal nicht so gut geht. „Es geht bei dieser Suche letztlich darum, wie unser Leben gelingt, auch wenn wir von negativen Emotionen bedrängt werden“, sagt Anselm Grün. Es lohnt sich also diejenigen Haltungen wieder zu entdecken, die unserem Leben Halt geben, die Trost spenden, die jenen Grund bieten, auf dem wir stehen können, und jenen Halt, an dem wir uns halten können.

Was uns wirklich tröstet und Halt gibt

Es lohnt sich auch, in alten Schriften nachzuforschen. So hat sich zum Beispiel der christliche Gelehrte Thomas von Aquin mit dieser Frage schon im 13. Jahrhundert beschäftigt. Seine Antwort darauf, wo wir Trost und Halt finden können, lautet ungefähr so: Jede Lust, jedes Weinen, das Mitgefühl von Freunden, die Schau der Wahrheit, das Gebet, aber auch ausreichend Schlaf und Bäder können unseren Schmerz und unsere Trauer mildern, die wir in manchen Lebensmomenten verspüren. Und auch der griechische Mönchspsychologe Evagrius wusste schon im 4. Jahrhundert was uns fehlt, wenn wir uns ungetröstet fühlen: eine optimistische Spiritualität und ein positives Verständnis unseres Lebens. In beiden Schriften ist die Rede davon, dass man Trost nicht nur in der Religion finden kann, sondern dass es auch rein weltliche Möglichkeiten gibt, die dem Menschen zur Verfügung stehen, damit er sich getröstet fühlt. Eine dieser Möglichkeiten liegt darin, Dinge für sich zu finden, die einem gut tun. Das kann eine längere Wanderung, ein schönes Musikerlebnis, ein romantischer Liebesfilm im Kino, das Lesen eines schönes Buches, ein Gang in die Stille oder auch ein verständnisvolles Gespräch mit seinem Liebsten oder einem Freund sein. Immer, wenn wir uns selbst etwas Gutes tun, trösten wir uns und sehen auf einmal wieder neue Möglichkeiten dafür, wie das Leben weitergehen kann.

Trost ist Gesundheitsvorsorge:
Sich getröstet zu wissen gehört zum Leben wie atmen, essen, trinken oder schlafen

Doch manchmal können wir uns selbst nicht trösten. Dann sehnen wir uns nach einer Berührung, einer Umarmung vielleicht. Sie vermittelt uns nicht nur eine körperliche, sondern auch eine seelische Nähe und Verbundenheit mit einem anderen Menschen. Und genau die suchen wir dann, wenn wir uns nach Trost sehnen. Eine innige Umarmung zeigt, dass da jemand an unserer Seite ist, der eben nicht viele Worte spricht, der in diesem Moment nicht über unsere Probleme, unsere Trauer oder Ängste spricht, sondern uns einfach mal so in den Arm nimmt, uns umschließt und umfängt, damit auch wir die Welt einmal so lassen können, wie sie ist und uns beschützt und geliebt wissen. Als Trost genügt uns die nonverbale Kommunikation, die Berührung, ein Lächeln, die Umarmung oder eine andere mitfühlende Geste. Trost braucht oft keine Worte, sondern einen körperlichen Ausdruck. Anselm Grün drückt es so aus: „Der Tröster geht mit, wenn ich alleine bin, wagt sich in meine Einsamkeit und hält sie aus. Er bleibt mir nahe. Ich kann ihn anschauen, ansprechen und mich an ihn anlehnen, wenn ich es brauche.“ Wohl dem, der einen solchen Tröster hat.

Winfried Hille

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