Die Bestsellerautorin Stefanie Stahl über unsere psychischen Grundbedürfnisse, Selbstreflexion und erste Schritte in ein zufriedenes Leben.
Schon als Kind fragte sich Stefanie Stahl, warum Menschen so unterschiedlich auftreten, kommunizieren und agieren. Als Teenager bekam sie dann durch ihre Mutter die Zeitschrift „Psychologie heute“ zu lesen, deren Ausgaben sie dann regelmäßig verschlang: Seitdem hat Stefanie Stahl die Psychologie nie wieder losgelassen. Heute ist sie Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin und erfolgreiche Autorin. Ihr Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ hat sich inzwischen über drei Millionen Mal verkauft. Wir sprechen mit Stefanie Stahl und wollen von ihr erfahren, was einen authentischen Menschen ausmacht:
Frau Stahl, über das Arbeitsbuch zu Ihrem Bestseller „Wer wir sind“ heißt es: „Wer weiß, wer er ist, sein authentisches Selbst kennt und seine Einzigartigkeit akzeptiert, ist der inneren Zufriedenheit ganz nah und kann sein Potenzial heben.“ Was verstehen Sie unter dem authentischen Selbst?
Als authentischer Mensch habe ich zu meinen Gefühlen einen guten Zugang und spüre, was gut und was weniger gut für mich ist, wo meine Grenzen sind und wo ich hin möchte. Ich stehe zu meinen Bedürfnissen und weiß, was ich will. Im Gegensatz dazu, versuchen aber viele Menschen, es allen recht machen zu wollen, um nicht abgelehnt zu werden. Sie gehen damit innerlich in die Autonomie, werden sozusagen zu ihrer eigenen Insel und lassen auch niemanden mehr an sich heran, um nicht verletzt zu werden. Ein authentischer Mensch steht dagegen zu seiner Verletzlichkeit. Er bleibt offen für den Austausch mit anderen und hat nicht ständig das Bedürfnis, sich schützen zu müssen.
Sie schreiben, dass wir psychische Grundbedürfnisse haben, die befriedigt sein müssen, damit wir ein authentisches Leben führen. Welche sind das?
Die psychischen Grundbedürfnisse können wir mit unseren körperlichen vergleichen. Sie sind existenziell und haben sich aus der Evolution ergeben, weil sie will, dass wir überleben und unsere Gene verbreiten. Da ist unser erstes Grundbedürfnis nach Verbindung, das heißt, wir wollen irgendwo dazugehören und Anschluss finden. Wir brauchen Freunde, eine harmonische Beziehung zu unserer Familie und zu unserer Arbeitsstelle.
Das zweite Grundbedürfnis steht dem ersten etwas entgegen. Das ist unser Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle, eigentlich ein Gegensatzpaar. Bei der Bindung geht es immer um die Frage: Was haben wir gemeinsam, wie kommen wir miteinander klar? Bei der Autonomie geht es um die Frage: Wo unterscheide ich mich von dir? Was ist mein eigener Weg? Ich muss wissen, dass ich dem Leben und meinen Beziehungen nicht einfach nur ausgeliefert bin, sondern mitgestalten kann. Vor diesem Hintergrund lassen sich schon viele Probleme und Konflikte erklären, die wir Menschen miteinander haben. Denn für eine Bindung müssen wir immer ein kleines Stück Autonomie und für die Autonomie manchmal ein Stück Bindung opfern.
Das dritte Grundbedürfnis ist das nach dem Selbstwert. Jeder Mensch will seinen Wert spüren und stabilisieren, möglichst noch erhöhen. Niemand möchte abgelehnt oder gekränkt werden. Unser Ziel ist, dass wir uns mit uns selbst möglichst gut fühlen und ungute Gefühle wie Angst, Trauer oder Scham vermeiden.
Das vierte Grundbedürfnis besteht darin, dass wir lernen, auch mit unguten Gefühlen besser umgehen zu können. Viele Menschen unternehmen unbewusst ganz viel, um schmerzhafte Gefühle zu unterdrücken. Meist bringt uns das nicht weiter. Wenn wir aber unsere Gefühle bewusst wahrnehmen dann können wir auch Entscheidungen treffen und sehr genau spüren, was wir im Augenblick brauchen.
Wenn diese Grundbedürfnisse ausreichend befriedigt sind, bin ich dann der Mensch, der ich wirklich sein will? Bin ich dann authentisch?
Wenn ich bei allen vier Grundbedürfnissen gut aufgestellt bin, dann habe ich das Gefühl: Ich bin okay, so wie ich bin und traue mich, ich selbst zu sein. Ich muss mich dann nicht mehr anstrengen, um anderen Leuten zu gefallen. Ich muss auch keine einsame Insel werden, um nicht verletzt zu werden. Infolgedessen kann ich dann leichter Beziehungen eingehen, weil ich sowohl „Ja“ als auch „Nein“ sagen kann, wenn es nötig ist und meine Grenzen überschritten werden. Das heißt, ich habe gelernt, mich sowohl anzupassen als auch abzugrenzen, und das ist ideal für die Gestaltung von Beziehungen. Wenn ich Kontakt zu meinen Gefühlen und meiner Verletzlichkeit habe, kann ich auch mehr Empathie und Mitgefühl für andere Menschen aufbringen. Und das ist der Schlüssel für den Aufbau gesunder Beziehungen. Dann bin ich auch mal in der Lage, ein schlechtes Gefühl auszuhalten und es zu regulieren bzw. dem anderen mitzuteilen. Alle meine Bücher haben das Ziel, dass wir persönlich nicht nur zufriedener und glücklicher werden, sondern dass wir ein besserer Mensch werden. Nur der selbstreflektierte Mensch ist ein weiser Mensch und der weise Mensch handelt in der Gemeinschaft und nicht nur für sich allein.
Das Gespräch führte Winfried Hille
Zum Weiterlesen: Stefanie Stahl, Wer wir sind, Kailash Verlag, 22 Euro
Stefanie Stahl, Wer wir sind – Das Arbeitsbuch, Kailash Verlag, 18 Euro
Das ganze Interview finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2024
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