Das Geheimnis der Selbstliebe

Uns selbst zu lieben, zu respektieren und auch in schwierigen Lebenslagen gütig zu uns zu sein, ist eine besondere innere Kraft – und die können wir immer weiter stärken. Erfahre, wie du mehr Selbstliebe und Selbstakzeptanz in dein Leben einlädst.

Die Reaktionen meiner Freunde und Bekannten, denen ich erzählte, dass ich gerade an einem Artikel zum Thema Selbstliebe arbeite, waren sehr unterschiedlich: Von einem leisen Schmunzeln, über einen herzhaften Lacher, hin zu Aussagen wie „Ich komme ganz gut mit mir zurecht“ und „Ich gönne mir jedes Jahr drei Wellness-Tage“ bis zu Fragen wie „Darf man das, ist das nicht egoistisch?“ und „Was ist denn damit gemeint?“. Ein Freund, mit dem ich darüber sprach, war begeistert. Er beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema und meinte, dass er durch die Entdeckung seiner Selbstliebe auf den „Geschmack“ eines erfüllten, authentischen Lebens gekommen sei, ohne ständig auf Wertschätzung von außen angewiesen zu sein.

Schon das oberste biblische Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ bezieht sich auf die Selbstliebe. Doch es wird häufig so ausgelegt: „Liebe deinen Nächsten“ im Sinne von „Du musst dich vor allem und zuallererst um deinen Nächsten kümmern und sorgen, seinen Wert höher setzen als deinen.“ Die im Gebot enthaltene Selbstliebe wandelt sich so in ihr Gegenteil: aus „Liebe dich selbst“ wird „Liebe die anderen, dich selbst zu lieben wäre egoistisch“. Wer sich selbst liebt, steht also unter Narzissmusverdacht. Interessanterweise gibt es Psychologen und Theologen, die die Auffassung vertreten, dass sich Selbstliebe und Narzissmus gegenseitig ausschließen. Danach verhält sich der Narzisst so egozentrisch und wichtigtuerisch, weil er sich nicht liebt und für minderwertig hält. Erich Fromm sagte dazu: „Es stimmt, dass selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben; sie sind jedoch genauso unfähig, sich selbst zu lieben.“ Was ist dann Selbstliebe?

Selbstliebe ist bedingungslos

Viele von uns haben echte Liebe nie erfahren. Wir haben Belohnungen erfahren. Wir lernten als Kinder, dass wir „geliebt“ werden würden, wenn wir höflich und fleißig wären, gute Noten bekämen, die Oma anlächelten und viele andere Verhaltensregeln, die den Wertvorstellungen unserer sozialen Umgebung entsprachen, erfüllten. So gaben wir uns stets große Mühe, geliebt zu werden, und begriffen nicht, dass diese „Liebe“ an Bedingungen geknüpft und somit keine echte Liebe war. Hin und wieder passierte es, dass wir an „unpassender Stelle“ oder zu „unpassender Zeit“ unsere eigene Identität entwickeln wollten. Dann waren wir „trotzig“ oder „böse“. Da war nicht viel Raum für Individualität, den wir gebraucht hätten, um uns in unserer Einzigartigkeit erforschen, erfahren und annehmen zu können.
Wie sollen wir uns lieben können, wenn dazu so viel Billigung seitens anderer nötig ist? Die in unserer Kindheit massiv vermittelten Werte haben wir in unserem Gewissen verinnerlicht und so bewerten wir uns heute selbst nach diesen alten Regeln, strafen uns ab, wenn wir mal über die „Strenge“ schlagen und haben als Erwachsene noch dieselben Ängste vor Abwertung und Ablehnung wie als Kind, wenn wir bestimmte Bedingungen nicht erfüllen. Diese Bedingungen beziehen sich z.B. auf die eigene Leistungsfähigkeit, unser Äußeres, unsere Bildung, den sozialen Status und die Wertschätzung durch andere.

Liebe dich und du fühlst dich lebendig und frei

Wir tragen alle unzählige kleinere und größere seelische Erschütterungen in uns und mit uns herum – die meisten davon sind uns nur nicht bewusst, sie bestimmen aber trotzdem unser Handeln. Was mir dazu einfällt und gefällt, ist das „Eisbergmodell“ wie es Eva-Maria Zurhorst in ihrem Buch „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratetst“ beschreibt: Bring dazu einmal die beiden Spitzen der Daumen und die der Zeigefinger zueinander. Und dann stell dir einfach mal vor, dass das kleine Dreieck, das da entsteht, die Spitze des Eisberges ist. Sie symbolisiert den Teil von dir, der äußerlich erkennbar für dich und die anderen zu sehen ist – der Teil von dir, der dir bewusst ist. Das ist der Teil aus dem heraus du im „Spiel des Lebens“ deine verschiedenen Rollen einnimmst: als nette Nachbarin, Mutter oder Vater, als Angestellte, Sportfan oder verständnisvolle Freundin. Und das ist auch der Teil, der sich verliebt und glaubt, einen Traummann oder eine Traumfrau getroffen zu haben und eines Tages zu einem anderen Menschen „Ich liebe dich“ sagt.

Wenn Verdrängtes nicht heilen kann

Halte jetzt das Fingerdreieck in die Höhe deiner Stirn und stellen dir vor, dass die ausgestellten Unterarme eine Verlängerung der beiden Zeigefinger sind. Jetzt hast du den ganzen Eisberg vor Augen. Der große Teil vom Handgelenk bis zum Ellenbogen zeigt dir dein wirkliches Sein, deine komplexes Persönlichkeitsgefüge. Hier unten schlummert all das, was deinem Bewusstsein abhandengekommen oder noch nie ins Bewusstsein getreten ist. Alles, was in deiner Familie nicht sein durfte und dir als ablehnenswert und unerwünscht beigebracht wurde. All das, was einst so schmerzte, dass du es lieber verdrängen oder einfach vergessen wolltest und deshalb auch keine Heilung erfahren hast. All das, was du dir nicht zugetraut hast, alle alten Muster, alle frühen Kindheitserfahrungen, Schmerzen, Verletzungen und Ängste genauso wie deine noch ungenutzten Potenziale, deine nach Entfaltung strebende Lebenskraft und deine noch ungeteilte Liebe. All das Gute, all das, was einst ganz natürlich zu dir gehörte, aber keinen Platz und keine Resonanz fand, verwandelt sich hier unten zum vermeintlich Bösen.

Glaubenssätze, die die Selbstliebe blockieren

Einstmals ungelebte Kraft und Lust, unerlaubte Wünsche und Triebe werden zu Aggression, Scham, Gier und Hass, die wir dann schließlich selbst an uns verurteilen, weil wir uns an die einstmals gute Absicht darin nicht mehr erinnern. So ist in unserem Eisberg alles eingesperrt, was wir heute als gefährlich einstufen und bewusst nicht mehr wahrhaben wollen oder uns nicht mehr erlauben – all das, was in unserem Wertesystem, in unserer Erziehung und Gesellschaft keinen Platz hat.

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 1/2025

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