Jede Wunde lässt sich heilen

Wir können selbst etwas dafür tun, Traumata zu heilen und unsere Resilienz zu stärken. Der Schlüssel dazu ist unser Selbstmitgefühl

Stürmt unser Nachbarshund Elvis zähnefletschend auf mich zu, erstarre ich zur Salzsäule. Früher habe ich mich vor Hunden nicht gefürchtet, doch seit mich so ein riesiges Tier angesprungen und gebissen hat, gerate ich in Panik, auch wenn ich genau weiß, dass Elvis nicht über den Zaun springt. Lässt der Schreck langsam nach, ärgere ich mich über mein lächerliches Verhalten und nehme mir vor, beim nächsten Mal cool zu bleiben.
Ist diese Erfahrung schlimm genug, um als Trauma durchzugehen? Für den klinischen Psychologen Christopher Willard spielt diese Frage keine Rolle. Stattdessen geht es darum, „sich um unser aus den Fugen geratenes Nervensystem zu kümmern, sich mit ihm anzufreunden, es zurückzusetzen und neu einzustellen“.

Fang an, dich um dich selbst zu kümmern

In stressigen Situationen neigen wir dazu, auf Stammhirn-Niveau zu handeln. Große und kleine Traumata verändern alles. Unseren Körper und unseren Geist sowie unsere Beziehungen zu anderen und der Welt. Jedes Mal „wenn wir eine schwere mentale, emotionale oder körperliche Verletzung erfahren, tauschen wir Perspektive, Wachstum und Lernen gegen Sicherheit ein – zumindest vorübergehend“, sagt Harvard-Dozent Willard. Diese Abwehrmechanismen sind eine normale Reaktion auf anormale Ereignisse. Sie helfen, im Notfall zu überleben. Wird jedoch der Notfall zur Dauereinrichtung, verdrahtet sich unser Hirn neu. Dann reicht eine als Bedrohung empfundene Situation schon aus, um Flucht, Angriff, Erstarrung oder Unterwerfung zu aktivieren. Selbst dann, wenn eine konkrete Gefahr nicht besteht.

Du bist dir selbst deine beste Freundin

Oft ist die dahinterliegende Verletzung nicht so offensichtlich wie ein Hundebiss. Täglich lösen bestimmte mit alten Wunden lose verknüpfte Orte, Menschen oder Dinge automatisch Schutzreaktionen bei uns aus, die unsere Handlungsfreiheit einschränken und uns mehr schaden als nutzen. Aus kritischen Situationen können wir uns nicht „herausdenken“, solange sich das Nervensystem nicht beruhigt hat. Wir müssen uns in neues Denken und Fühlen hinein „handeln“, um unbewusste Abläufe zu unterbrechen und kreative Lösungen zu ermöglichen. Glücklicherweise sind in unserer DNA auch versteckte Werkzeuge zu finden, die das angegriffene Nervensystem wieder stabilisieren: Wir können uns um uns selbst kümmern und mit uns selbst anfreunden. Diese verschüttete Gabe gilt es freizulegen.

Liebe volle Hinwendung zum eigenen Körper

Der erste Schritt zur Heilung besteht in einer liebevollen Hinwendung zum vernachlässigten Körper. Meist sind wir so beschäftigt mit Ideen, Plänen, Vorstellungen und Konzepten, dass wir ihn nur noch als mobiles Equipment begreifen, das den wertvollen Geist von A nach B bringt. Vielleicht beschäftigen wir uns theoretisch mit Körpergewicht und Fitnesszustand, die Zeit auf körperliche Signale und Bedürfnisse zu achten, nehmen wir uns kaum. Unser Körper rückt erst wieder in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, wenn etwas nicht funktioniert oder schmerzt. Intellektuell mögen wir begreifen, dass Körper, Geist und Herz untrennbar miteinander verbunden und eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und viel Bewegung die beste Medizin sind. Doch im stressigen Alltag greifen wir auf dieses Wissen nur selten zurück. Im Gegenteil: Meist fallen körperliche Aktivitäten als erstes unter den Tisch. Selten achten wir darauf, aufrecht zu gehen, bewusst zu atmen oder weniger Junkfood und Süßkram zu essen.

Achte auf deinen Atem

Dabei sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse eindeutig: Achten wir auf den Atem, beruhigt sich unser Körper. Ein entspannter Körper wiederum stabilisiert das Nervensystem. Ist das Nervensystem stabil, fühlen wir uns sicher und dann verändern sich Impulse und Emotionen und die Qualität unserer Aufmerksamkeit steigt. So lernen wir, dass unsere Stimmung den Körper beeinflusst. Und dass wir durch eine veränderte Körperhaltung unsere Stimmung beeinflussen können (siehe Übung: Wellenatmung).
Doch wenn wir Heilung mit allzu viel Ehrgeiz und Strenge erzwingen wollen, verkommt sie zum Selbstoptimierungsprojekt. Bringen wir dann unsere hohen Ansprüche und unser tatsächliches Handeln nicht mehr unter einen Hut, bekommt unser innerer Kritiker seinen großen Auftritt.
Veronika Schantz

Zum Weiterlesen:
Christopher Willard, Trauma Tools, Unum Verlag 18,99 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 4/2023

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