Verena Kast: Hoffnung
schöpfen in der Krise

Wir leben in schwierigen Zeiten: Klimawandel, rechter Terror oder weltweite Epidemien machen vielen Menschen Angst. Was kann helfen, angesichts zahlreicher Bedrohungen weder in Panik zu verfallen noch zu resignieren? Die renommierte Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin Verena Kast zeigt anhand vieler Beispiele: Um Angst und Verzweiflung zu bewältigen, können wir innere Gegenkräfte entwickeln. Es gilt, uns auf Hoffnung und Zuversicht auszurichten.

In der Hoffnung drückt sich das Vertrauen zum Dasein auch in der Zukunft aus. Doch wir müssen eine wesentliche Unterscheidung machen. Hoffnung ist zum einen eine Grundemotion, eine Hintergrundsemotion des Lebendigen. So lange wir leben, sind wir auch von Hoffnung getragen. Wir erleben aber auch eine alltäglichere Hoffnung, die uns zugänglicher ist, uns mehr beschäftigt und die uns auch abhandenkommen kann. Diese kann auch einmal der Hoffnungslosigkeit, der Resignation weichen. Dann schauen wir nicht mehr zuversichtlich in die Zukunft, sondern besorgt – und dennoch leben wir weiter und hoffen untergründig, dass es so schlimm doch nicht sein möge und dass Hoffnung eines Tages wieder möglich wird.

Auch gibt es Menschen, von denen man den Eindruck hat, sie seien mehr von Hoffnung getragen als andere, sie blicken vertrauensvoller in die Zukunft. Und andere, die die Hoffnung verloren zu haben scheinen, schöpfen plötzlich wieder Hoffnung – so wie man Wasser schöpfen kann.
Eine Frau, deren 6-jähriges Kind seit zwei Tagen verschwunden war, war natürlich verzweifelt. Sie beteiligte sich an der Suche, kam auf immer wieder neue Ideen, wo das Kind sein könnte, und brachte dadurch eine große Unruhe in die Familie und in den Suchprozess. Erschöpft sank sie schließlich in einen Stuhl, schlief ein paar Minuten, wachte auf und sagte ihrem Partner: „Jetzt schöpfe ich plötzlich wieder Hoffnung.“ Im Nachhinein beschrieb sie diesen Augenblick als etwas ganz Entscheidendes. „Ich wusste, was auch geschieht, es wird wieder gut.“ Und das Kind wurde tatsächlich gefunden. Entscheidend – und auch völlig überraschend war für die Frau der Umschlagspunkt von der Verzweiflung in die Hoffnung, als sie wieder „Hoffnung schöpfte“, ohne dass schon ein äußerer Anlass dazu vorhanden gewesen wäre.

Auf dem Tiefpunkt der Krise wächst die Hoffnung

Ein wichtiger Umschlagspunkt im Erleben wird markiert, wenn wir wieder Hoffnung schöpfen: Zunächst ist die Zuversicht verschwunden, man ist bang, das Leben engt sich ein, Angst ergreift einen, man ist verzweifelt, vielleicht will man auch schon aufgeben, reagiert resigniert, und dann zeigt sich unvermittelt eine Öffnung, die mit der Ahnung verbunden ist, es könnte doch gut gehen. „Ein heller Streif zeigt sich am
Horizont“, sagen die einen, um diese Veränderung zu beschreiben, „es beginnt zu tagen“ die anderen. Die Krise, das Dunkel ist vorüber, ein Zeichen dafür, dass ein Tiefpunkt der existentiellen Erfahrung vorbei ist. Doch woher kommt die Hoffnung? Dass wir wiederum Hoffnung „schöpfen“, lässt darauf schließen, dass es irgendwo eine Quelle gibt, eine Fülle, an der wir Anteil haben können und die sich eher einstellt, als wir uns ihrer aktiv bedienen könnten. Auf dem Tiefpunkt der Krise – so weiß man – wenn die Angst so sehr überhand zu nehmen droht, und alle Zuversicht geschwunden ist, bricht plötzlich Hoffnung auf, wird Hoffnung erfahrbar.

Hoffnung als erlebte Hoffnung ist ein Gefühl, das eng mit der Krise verbunden ist. Dieses Geschehen ist vergleichbar mit einem schöpferischen Prozess, in dem plötzlich eine Idee das qualvolle Suchen beendet, ein Einfall uns sofort mit neuer Hoffnung und neuer Energie erfüllt, wird nach der Qual der Krise Hoffnung und damit neue Energie, neue Zuversicht erlebbar.

aus: Verena Kast, “Immer wieder neu beginnen”, Patmos Verlag, 16 Euro

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