Über die Heilkraft der stillen Zeit

Räuchern, alte Feste und das leise Fallen des ersten Schnees: Mariele Diehl erzählt von ihrer Reise zur Stille und wie Rituale sie dabei begleitet haben.

Aus einer Laune heraus spaziere ich zum Fluss. Das Wasser ziert ein seltsames Mosaik aus Herbstblättern, das sanft unter leichten Wellen hin und her schaukelt. Enten baden sich am Ufer, ein Eichhörnchen rüstet sich für den Winter, Amseln rascheln im Laub. Ich fühle mich wie eine Fremde. Als folge das Leben hier einem anderen Takt. Einem Takt, den ich verloren habe.

Wir brauchen die natürlichen Rhythmen

„Es gibt unzählige wiederkehrende Bewegungen in der Natur: Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Werden und Vergehen, wir Menschen sind in den Rhythmus der Erde und des Himmels eingebettet“, schreibt die Achtsamkeitstrainerin und Expertin für ganzheitliche Psychosomatik Dorothea Neumayr. „Wir brauchen die natürlichen Rhythmen als Takt- und Zeitgeber für ein gesundes Leben.“ Mich beschäftigt das. Ich weiß nicht mehr, wie das geht: im Rhythmus der Natur leben. Und gleichzeitig spüre ich, dass mein Körper nicht anders als der der Tiere ist. Dass er sich eine Höhle suchen will für den Winter, aber in der heutigen Welt mit all ihrem Beton keine mehr findet.

Von der Routine zum stillen Ritual

„Bevor wir uns den großen Rhythmen der Natur zuwenden, sollten wir allerdings unsere eigenen kleinen Rhythmen und Rituale erkennen und wertschätzen“, rät Neumayr. Man ist sich vieler dieser Rhythmen gar nicht bewusst. Das Glas Wein am Freitag mit der besten Freundin, der Tatort am Sonntag. Abendspaziergänge, Tagebuch schreiben, das tägliche Telefonat mit der Schwester.
„Ein Ritual unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von einer oberflächlichen Routine des Alltags“, so Neumayr. „Rituale – auch das Räuchern – entziehen sich aller Regeln, Normen und Gesetze, führen von Verstehen ins Fühlen und wirken auf der Herzebene“, so Neumayr. Rituale sind feierliche, achtsam durchgeführte Handlungen, die nach bestimmten Regeln ablaufen. Sie helfen uns dabei, in einen veränderten Bewusstseinszustand zu kommen und spirituelle Erfahrungen zu machen. Bedeutsam ist hierbei vor allem die innere Haltung. „Nicht das Ritual ist heilig, sondern das was dahintersteht.“

Räuchern zum Jahreswechsel

Ein erster einfacher Schritt, Ruhe und ein wenig Feierlichkeit in den Alltag zu bringen, ist es bereits, bestehende Routinen zu benennen, auszuschmücken und auf seine Art zu zelebrieren. So kann aus dem abendlichen Tagebuchschreiben ein Tagebuchstündchen nach dem Abendessen werden, zu dem Kerzenlicht, Kekse und leise Klaviermusik gehören. Doch gibt es auch Rituale, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten. Eines der ältesten ist wohl das Räuchern.
Wer hierbei an Omas stickige Wohnung voller Räucherstäbchen denkt und dankend ablehnt, sollte dem Räuchern vielleicht noch einmal eine Chance geben. „Ursprünglich wurden Pflanzen, Wurzeln, Rinden, Flechten und Harze aus den Wäldern und Blüten, Blätter und Samen von Pflanzen der umliegenden Wiesen verräuchert“, schreibt Neumayr. „Räuchern ist ein Ritual, das zentriert und nach Innen führt.“

Auf die innere Stimme hören

Zum Räuchern gehören viel mehr, als nur ein Streichholz und ein paar Pflanzenteile. Auch das Sammeln von Blättern und Wurzeln kann ein Weg sein, eine intensive Beziehung mit den Jahreszeiten und der heimischen Natur zu pflegen. Man kann im Herbst Waldweihrauch sammeln, Wildfrüchte zum Räuchern trocknen und mit Salbei das alte Jahr verabschieden und das neue feiern. „Mach dich neugierig und vertrauensvoll auf deinen Weg“, rät Neumayr, „hör auf deine innere Stimme und wähle das passende Räucherwerk intuitiv, denn deine Absicht für das Ritual ist wesentlicher als die Wahl des Duftes.“

Für mich steht fest: Ich brauche die Stille

Für mich steht fest: Ich brauche die Stille. Als einen Anker im Alltag und als einen Ruhepol in einer Welt, die das Schweigen verlernt hat. „Wir brauchen eine bestimmte Zeit und einen besonderen Ort, an dem wir ungestört abschalten und die Eindrücke des Tages reflektieren können“, so Dorothea Neumayr. Ich entscheide mich ihm zu folgen. Eine Stunde für die Stille, jeden Abend. Ich nehme mir ein Einmachglas und fülle es mit Johanniskraut, das ich im Sommer gesammelt habe. Kerzen erhellen die Wohnung, das kurze Aufflackern des Streichholzes gesellt sich zu ihrem schummrigen Licht, als ich das Kraut anzünde. Ich überlege, was ich als nächstes tun soll. Möchte das Radio anmachen. Doch ich halte inne und entscheide mich: die Stille in den Alltag einzuladen …
Mariele Diehl

Zum Weiterlesen:
Dorothea Neumayr, Die Heilkraft der stillen Zeit, Nymphenburger Verlag, 18 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2022

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