Wie wichtig wir uns selbst sind, zeigt sich auch in unserer Fähigkeit, allein zu sein. Im Alleinsein wird uns bewusst, was uns guttut und womit wir uns schaden, wovon wir träumen oder was wir gerne loslassen würden.
Auf die Frage hin, mit welchem Menschen wir am meisten Zeit verbringen, kommen meist Antworten wie: „Mit meiner Frau“, „meinem besten Freund“, „meinen Kindern“. Ja, natürlich, wir denken als erstes an die Menschen, die uns am Herzen liegen. Aber dem ist nicht so. Der Mensch, mit dem wir am meisten Zeit verbringen, sind wir selbst. Wir sind immer mit uns zusammen: morgens, mittags, abends und nachts. 24/7. Schlaf inbegriffen, ganz klar, denn auch da sind wir bei uns und haben mit uns zu tun. Nicht zuletzt sind es unsere Träume, in denen wir wichtiges und auch banales Tagesgeschehen innerlich verarbeiten. Dies zu erkennen ist das eine. Was daraus folgt das andere, denn es schließen sich automatisch weitere Fragen an: Wie schön oder nicht schön ist die Zeit, die ich mit mir verbringe? Wie gehe ich mit mir selbst um? Liebevoll oder lieblos? Antreibend? Wertschätzend oder herabwürdigend? Nehme ich meine Bedürfnisse ernst oder vernachlässige ich sie? Und wovon sind meine Selbstgespräche, meine inneren Monologe geprägt? Eher von ermutigenden oder von entmutigenden Gedanken?
Der Mensch, mit dem wir am meisten Zeit verbringen, sind wir selbst
Wie wir mit uns selbst umgehen, zeigt sich insbesondere in der Fähigkeit, mit uns selbst alleine zu sein – ohne uns zu langweilen oder in Gedankenschleifen, Befürchtungen oder bitteren Erinnerungen zu versinken. Die Inhalte der eigenen Gedanken und die Art und Weise, wie man diese Inhalte bewertet, führen oft dazu, dass das Alleinsein als negativ oder belastend empfunden wird. Es ist, als müsse man sich ständig selbst mit Informationen „zuschütten“ um unangenehmen Gedanken und Gefühlen zu entkommen. Zudem verwechseln wir das Alleinsein allzu oft mit Einsamkeit. Einsamkeit wird zu Recht als krankmachend betrachtet, darauf weist eine ganze Reihe von Studien hin. Alleinsein und Einsamkeit haben jedoch nicht zwingend etwas miteinander zu tun.
Auf den Punkt gebracht: Alleinsein heißt, dass gerade keiner um mich herum ist, ich also ohne jemand anderes in einem Raum oder draußen in der Natur bin. Einsamkeit hingegen ist kein Zustand, sondern ein Gefühl. Ich kann mich einsam fühlen, wenn ich allein bin, ganz klar, aber ebenso kann ich mich einsam fühlen in einer Partnerschaft, am Arbeitsplatz oder in einem Saal voller Menschen.
Gerade im Frühjahr 2020, zu Zeiten des ersten Lockdowns haben – nach dem ersten Schock über das Ausmaß und die Folgen der Pandemie – viele von uns entdeckt, dass Alleinsein zahlreiche positive Aspekte hat. Wir haben zum Beispiel erfahren, dass wir uns im Alleinsein oft besser erholen können als bei gemeinsamen Aktivitäten mit anderen, wie der „Rest-Test“ (siehe Seite 11), eine Studie britischer Forscher, belegt. Das Alleinsein schafft Raum zum Loslassen und dazu, Abstand zu finden, ermöglicht konzentriertes Nachdenken, setzt neue Energien frei und trägt dazu bei, selbstbestimmter und souveräner denken und handeln zu können.
Die Kunst, bewusste Zeiten mit sich allein zu genießen
Wenn wir kürzere oder auch längere Phasen des Alleinseins erleben – sei es aus eigenem Antrieb, sei es, dass äußere Gegebenheiten dies mit sich bringen – macht es Sinn, sich einen freundlichen inneren Umgangston anzugewöhnen. Dies meint, so mit uns selbst umzugehen, wie wir auch mit dem besten Freund, der besten Freundin umgehen würden.
Häufig muss ein gelassenes, kreatives Alleinsein, bei dem wir uns wohlfühlen, erst wieder erlernt werden, vor allem dann, wenn bislang unentwegtes Beschäftigtsein, Ablenkung, Zerstreuung und Konsumieren unser Leben bestimmt haben – zusammen mit einem stressreichen und hektischen Arbeitsalltag. Während der pandemiebedingten Lockdown-Phasen, wo Betriebsamkeit und Unterhaltung – zumindest in unserem analogen Leben – einer plötzlichen Stille gewichen waren, machte sich auch eine gewisse Leere breit. Wenn man an einen steten Strom äußerer Reize gewöhnt ist, durch den man Tag für Tag hindurchsurft, können uns Innehalten und Ereignislosigkeit erdrückend vorkommen. Natürlich kann eine solche gefühlte Leere mit dem Konsum von Netflix & Co. aufgefüllt werden, um dem etwas entgegenzusetzen, aber bringt’s das wirklich? Wäre es nicht interessant, sich dem Alleinsein einmal ganz ohne Schnick und Schnack zu stellen, auch ohne sich durch eine Ausgangssperre oder ähnliches dazu gezwungen zu sehen? Schließlich hat Alleinsein viele Vorteile.
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