Aufatmen, zur Ruhe kommen, Kräfte sammeln – die Natur lädt ein, zu entschleunigen und den inneren Rhythmus zu finden. Karina Hötzel berichtet von ihrem ganz besonderen Lebensfreude-Erlebnis.
Ich wache auf und fühle mich wie gerädert. Bis tief in die Nacht kreisten meine Gedanken wie ein Karussell in meinem Kopf. Probleme und schwierige Entscheidungen verfangen sich in einem Netz negativer Gedanken.
Am Frühstückstisch verschütte ich mich mit heißem Kaffee, muss mich zum zweiten Mal umziehen, verpasse die Straßenbahn und komme zu spät zur Uni. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es zur Klausur, bei der ich nicht mal die Hälfte der Fragen beantworten kann. Es ist einer dieser Tage, an denen alles schief läuft. Erschöpft, müde und gereizt komme ich nach Hause. Am liebsten würde ich mich in meiner Bettdecke verkriechen und den ganzen Tag Serien schauen. Ich gehe ans Fenster, will den Rollladen schließen, um mich ganz von der Welt abzuschirmen. Die Sonne strahlt mir wie zum Trotz warm und grell ins Gesicht. Genervt ziehe ich am Rollladen, als mich plötzlich ein melodischer Klang aufhorchen lässt.
Ich öffne das Fenster und sehe wie eine Amsel aus dem Geäst des Kirschbaums hervorlugt. Fast herausfordernd schaut sie mich an, während sie unbeirrt weitersingt. Eine Weile lausche ich den sanften Tönen und versinke in Gedanken. Als ich mich gerade wieder meinem Bett zuwenden will, verstummt die Amsel, hebt ab und fliegt Richtung Wald.
Ich sehe wie eine Amsel aus dem Geäst des Kirschbaums hervorlugt
Mein Blick folgt ihr, ich sehe zu wie sie unbeschwert durch die Lüfte gleitet bis sie im dichten sommergrünen Laub der Bäume verschwindet. Einen Moment hoffe ich, dass sie wieder zurückkommt, doch der Wald hat sie verschluckt. Mein Blick schweift hoch zu den Waldhügeln, die Baumspitzen berühren den azurblauen Himmel. Ein Gefühl von Sehnsucht breitet sich in mir aus.
Ich spüre die samtenen Sonnenstrahlen auf meiner Haut – als angenehmes Kribbeln
Ein unerwarteter Impuls reißt mich plötzlich aus meiner Lethargie. Meine Wohnung erscheint mir auf einmal zu klein. Es ist zu dunkel. Ich möchte weg, ich möchte hier raus. Eine rastlose Unruhe ergreift von mir Besitz. Kurz entschlossen, schnappe ich mir meinen Rucksack und verlasse das Haus. Gierig atme ich die nach frischem Raps duftende Luft ein. Einmal, zweimal, dreimal. Ich spüre die samtenen Sonnenstrahlen auf meiner Haut – als angenehmes Kribbeln. Auf einmal kann ich wieder freier atmen. Entschlossen setze ich einen Fuß vor den anderen, lasse das Haus, die Straße, die Siedlung hinter mir. Ein Schotterweg schlängelt sich durch die sattgrünen Wiesen bis hin zum Waldrand.
Vereinzelt zirpen schon die ersten Grillen, laden ein zum Tanz des Sommers. Ihr Lied vermischt sich mit dem Gesang der Vögel. Mit jedem Schritt, mit dem ich dem Wald näherkomme, habe ich das Gefühl leichter zu werden. Äste knacken unter meinen Füßen und die würzige Waldluft betört meine Sinne. Die raue Rinde einer Tanne streift meinen Arm. Der Wald nimmt mich auf wie zuvor auch die Amsel. Die Bäume erwarten und begrüßen mich wie einen alten Freund. Sie wiegen sich sanft im Wind, die Blätter rascheln. Es duftet nach Moos und Harz. Ich lehne mich an einen Baum und fühle mich sicher und geborgen.
Zum Weiterlesen:
Guntram Stoehr, “Die Natur als Kraftort”, Nymphenburger/Kosmos Verlag, 30 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 4/2020
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