In diesen seltsamen Zeiten gehen wir kaum noch zu Veranstaltungen, ins Kino oder Theater. Der Kontakt mit anderen Menschen ist nur noch eingeschränkt möglich. Doch sich langweilen muss nichts Schlimmes sein. Findet Eveline Helmink.
Als Kind habe ich unzählige Stunden damit verbracht, der großen Uhr in unserem Wohnzimmer zuzuhören. Im wahrsten Sinne des Wortes hörte ich die Zeit verstreichen. Ich konnte mich gut selbst unterhalten, gleichzeitig konnte ich mich extrem langweilen. Ich erinnere mich, wie ich die Schatten an der Wand und die Maserung im Holz des Couchtisches betrachtete und wie heimelig der Sofabezug roch. Ich lauschte den Geräuschen im Haus und in der Umgebung: das Rascheln einer Zeitungsseite, das Geräusch der klappernden Skateboards meines Bruders und seiner Freunde auf der Straße vor dem Haus.
Langeweile hat auch angenehme Seiten
Ich hätte etwas unternehmen oder machen können, tat es aber nicht. Vielleicht habe ich intuitiv gespürt, dass Langeweile als Aktivität an sich durchaus angenehme Seiten hat. Es gab nichts, was getan werden musste, keinen Ort, der meine Anwesenheit erforderte, und das Ganze hatte auch noch eine natürliche Selbstverständlichkeit. Heute beneide ich das Mädchen mit scheinbar endlos viel Zeit, um völlig darin aufzugehen. Ich muss immer etwas tun und immer irgendwo sein. Natürlich ist das „Müssen“ irgendwo auch meine Entscheidung, dennoch: Manchmal vermisse ich das Nichtstun.
Ich kann mich auch nicht mehr so gut wie damals langweilen. Als Erwachsene haben wir viel weniger „Zwischenzeit“. Das Leben quetscht sich in die Tage, Stunden und Minuten wie Bauschaum. Es gibt kaum Momente, in denen wir wirklich nichts zu tun haben. Ein verspäteter Flug, das Wartezimmer des Zahnarztes, ein Paketbote, der nicht auftaucht: Ich liebe diese Zwischenzeiten. Das Niemandsland zwischen gerade eben und gleich ist ein Geschenk. Man könnte es „Leben im Jetzt“ nennen, aber ich nenne es „umständehalber entstandene Achtsamkeit“. Als ob man zufällig über das Jetzt stolpert.
Erzwungenermaßen: Leben im Jetzt
Langeweile ist etwas anders als Meditation oder Ruhe, denn dafür nehmen wir uns Zeit und richten unsere Aufmerksamkeit darauf. Wenn wir uns langweilen, ist da eher nichts, das unsere Aufmerksamkeit verdient, nichts, das uns Energie gibt. Wir leben von einer Erfahrung zur nächsten. Langeweile bedeutet Stillstand. Wir möchten, dass etwas Aufregendes passiert, etwas, das uns stimuliert – aber nein, das Leben ist langatmig und uninteressant.
Langeweile ist nicht unbedingt eine schöne Empfindung, manchmal fühlt sie sich eher wie eine staubige Wüste an, in der die Sonne unerbittlich alles versengt: Angenehmes und Unangenehmes. Ohne Ablenkung, ohne frischen Brunnen oder einen Schatten, in den man sich flüchten könnte, es gibt nur das, was da ist. Das ist manchmal ziemlich unangenehm.
Aber gerade weil wir ein Leben mit einer Flut von Reizen führen, kann Langeweile absolut nicht schaden. Denn was leer ist, kann sich, mit etwas Geduld, füllen.
Mit Reflektion, Tagträumen, Kreativität oder einfach Akzeptanz, dass es nichts gibt außer dem, was da ist. Wie oft spürst du das wirklich, eine solche Leere?
Langeweile ist eine Übung
In der Vergangenheit war Zeit ohne konkreten Zweck ein normaler Bestandteil des Lebens. Kennst du den Begriff „Dämmerung”? Alte Leute machen es zuweilen noch: Sie setzen sich auf einen Stuhl und am Ende des Tages warten sie, dass der Abend kommt. Nichtstun und warten. Nicht sofort die Lampen anmachen, sondern ein paar Gedanken nachhängend wahrnehmen, wie es langsam dunkel wird.
Langeweile ist eine Übung. Eine Übung darin, mit dem zu sein, was da ist, sich nur mit den eigenen Gedanken, Wünschen und Fantasien zu zerstreuen. Unser Gehirn möchte stimuliert werden, damit es in Bewegung bleibt und ständig neue Zellen entstehen. So sind wir von Natur aus neugierig. Und kreativ. Wenn wir Langeweile zulassen, öffnen sich die Schleusen zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, du kannst dann deine innere Stimme klarer hören, als wenn du ständig auf äußere Reize eingehst, um Langeweile zu vermeiden. Eine vierstündige Zugverspätung kann zum Beispiel genauso interessant sein wie eine tiefe zehnminütige Meditation: Insbesondere dann, wenn wir auf »aus« stehen, geschieht etwas auf einer tieferen Ebene.
Raum für ursprüngliche Gedanken
Wenn du einen miesen Tag hast, lass Langeweile zu. Du wirst sehen, dass sich etwas verändert, wenn du dich einfach entspannst, und sei es nur etwas Kleines. So entsteht Raum für ursprüngliche Gedanken, du kommst dir selbst näher. Manchmal ist es schön, dieses Gefühl herbeizuführen. Setze dich einmal ohne Ablenkung (lass das Telefon zu Hause!) auf eine beliebige Bank irgendwo in einer beliebigen Straße in einem beliebigen Viertel. Nicht in diesem angesagten Café mit der inspirierenden Aussicht, sondern an einem Ort, der keinen besonderen Reiz auf dich ausübt. Nothing to do, nowhere to be, a simple little kind of free, heißt es in einem Song von John Mayer. Genau, das ist schön gesagt.
Zum Weiterlesen:
Eveline Hemink, “Handbuch für miese Tage”, Irisiana, 22 Euro