Das Gefühl einsam zu sein, gilt heute als Stigma. Doch die Einsamkeit hat auch eine gute Seite. Sie kann eine Quelle der Kraft sein und zu neuer innerer Stärke führen
Millionen Menschen in Deutschland fühlen sich einsam, so sagte die Familienministerin bei der Vorstellung des aktuellen Einsamkeitsbarometers. WHO und Bundesregierung entwickeln Strategien, Aktionswochen finden statt, Krankenkassen empfehlen ihren Mitgliedern, die Einsamkeit bei den Hörnern zu packen und sich ehrenamtlich zu engagieren. Es ist gut, das Thema aus der Tabuzone zu holen und Betroffenen zu helfen. Doch ist Einsamkeit wirklich bloß eine üble Seuche, die es auszumerzen gilt? Als menschliche Wesen können wir der Einsamkeit nicht entrinnen. Sie ist ein Grundzug unserer Existenz, auch und gerade weil wir soziale Wesen sind. Niemals sind wir sicher vor dem Verlust geliebter Menschen, vor Krankheit oder anderen Schicksalsschlägen. Wenn wir uns in solchen Situationen einsam fühlen, dann ist das aber kein persönliches Versagen, sondern eine natürliche Reaktion.
Der Einsamkeit auf der Spur
Die Gründe für die sich ausbreitende Einsamkeit sind offensichtlich. Familienbande haben sich gelockert, wir sind mobiler geworden, wechseln öfter den Wohnsitz oder den Arbeitsplatz. Dass Stadtluft heutzutage nicht nur frei macht, zeigt die hässliche Seite dieser auf Individualverkehr und Funktionalität ausgerichteten Metropolen, deren Architektur und Stadtplanung die Bewohner mehr trennt als verbindet. „So wird das Dasein in der Masse anonym: Inmitten unzähliger Menschen bleibt der Einzelne unbemerkt, allein, einsam“, schreibt der Philosoph Odo Marquard.
Heute ist so vieles selbstverständlich, was früher ohne persönlichen Kontakt gar nicht möglich war: Bankgeschäfte, Yoga-Kurse, Reisen buchen, Einkäufe, Behördengänge. Das heißt nicht, dass Begegnungen, die wir früher dabei hatten, immer angenehm waren, sie lehrten uns aber, den persönlichen Umgang mit anderen und die Grenzen der Höflichkeit zu wahren. Kontaktfähigkeit gleicht einem Muskel, der verkümmert, wenn er zu wenig bewegt wird. Wir sollten die Bedeutung dieser „unbedeutenden“ Begegnungen nicht unterschätzen. Während des Corona-Lockdowns und vieler Kontaktbeschränkungen dienten soziale Medien als Notnagel für direkte Begegnungen. Doch sie zeigten uns auch, dass eine Videokonferenz den persönlichen Kontakt nicht ersetzen kann.
„Soziale Medien sind eben nicht nur sozial“, warnen Lippke und Smidt in ihrem Buch „Verbunden statt einsam“. „Sie bergen auch die Gefahr, nicht resonant und nicht „vollkommen“ in der tatsächlichen Begegnung mit anderen Menschen da zu sein – durch eine ständige Ablenkung oder Multitasking.“ Ihr intensiver Gebrauch führe zu einer verringerten direkten Interaktion mit anderen Menschen, was wiederum Einsamkeit begünstige. Eine Tendenz, die Marquard lange vor Facebook, Instagramm und TikTok fast prophetisch analysierte: „An die Stelle der Nächstenliebe tritt die Fernstenliebe. Dieser Verlust des Nächsten durch Flucht ins Ferne verstärkt gerade das, dem man entkommen wollte: die Einsamkeit.“
Eine gute Beziehung mit dir selbst
Robert Waldinger und Marc Schulz leiten ein Harvard-Projekt, das Antworten auf die Frage nach dem guten Leben sucht. Seit 1938 beantworten die Teilnehmenden in regelmäßigen Abständen Fragen über sämtliche Bereiche ihres Lebens und lassen ihren Gesundheitszustand überprüfen. Würde man sämtliche Studienergebnisse in einen Topf werfen, schreiben die beiden, und müsste sie auf ein einziges Lebensprinzip herunterbrechen, dann blieben nicht beruflicher Erfolg oder gesunde Ernährung übrig, sondern gute Beziehungen. Zu guten Beziehungen, gehört aber auch die mit sich selbst.
Wer es, laut Hannah Arendt, nicht ertragen kann, mit sich selbst zusammen zu sein und mit sich selbst ins Zwiegespräch zu kommen, weiß nicht, wer er eigentlich ist. Auch in Märchen und Mythen muss der Held erst die Einsamkeit meistern, bevor an weitere Heldentaten zu denken ist. Und der Filmemacher Pedro Aldomovar weiß: „Für das Schreiben ist sehr oft die Einsamkeit notwendig.“
Die Kunst des Alleinseins
Auch Lippke und Smidt weisen darauf hin, dass Einsamkeit als ein wertvolles Gefühl wahrgenommen werden kann, das zum Innehalten einlädt. Natürlich wacht niemand morgens mit dem Wunsch auf, sich heute einmal so richtig schön einsam zu fühlen. Schließlich legt unsere Gesellschaft hohen Wert aufs „Immer-gut-draufsein“. Gut meint, optimistisch zu sein, positiv zu denken, jede Krise als Herausforderung zu sehen und individuelles Wohlbefinden zu verströmen. Der penetrante Druck, ein Leben mit Nonstop-Sonnenschein zu führen, verhindert, dass wir uns mit Traurigkeit, Verzweiflung und Einsamkeit anfreunden. Wir erleben diese Gefühle nicht nur als unangenehm, sondern allgemein als falsch.
Veronika Schantz
Zum Weiterlesen:
Sonia Lippke/Christiane Smidt, Verbunden statt einsam, Junfermann Verlag, 28 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2024
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