Die Natur ist der ideale Erholungsraum, um sich von den psychischen Belastungen des stressigen Alltags zu erholen. Die TV-Journalistin Barbara Stöckl hat sich auf eine Wanderung begeben, um dabei genau das zu erfahren.
Drei Uhr morgens Tagwache – das ist echt nicht meine Zeit. Ich liebe es, morgens zu schlafen, mir noch einmal Kopfkissen und Decke über die Nase zu ziehen und mich meinen Schlaf- oder auch Wachträumen hinzugeben. Aber heute ist Sonnenaufgangswandern angesagt, und das soll ein ganz besonderes Erlebnis sein. So füge ich mich dem Läuten des Weckers, auch wenn es mitten in der Nacht ist, finde gähnend meine am Vorabend zurechtgelegten Sachen und mache mich fertig. Müdigkeit und freudvolle Erwartung mischen sich zu einer Art Anspannung, einer Stimmung, wie man sie von Urlaubsflügen kennt, wenn man sich unausgeschlafen auf den Weg in die Ferne macht. Müdigkeit, Anspannung, freudvolle Erwartung. Den Rucksack habe ich schon gepackt, Teeflasche, Regenjacke, Pullover, nur das Nötigste. Unser Bergführer Paul hat alles vorbereitet. Wenn er dabei ist, fühlt man sich sicher und geborgen und hat die Gewissheit, dass er ohnedies an alles gedacht hat, was unsereiner vielleicht vergessen haben könnte. Mit dem Jeep geht es zur Alm, die der Ausgangspunkt unserer Wanderung ist. Wie finster die Nacht in den Bergen ist, wird mir in diesem Moment klar. Ganz anders als in der Stadt, wo immer ein Licht, eine Reklame, ein Scheinwerfer leuchtet. Hier ist es dunkel. Nachtschwarz. Es ist kein Gefühl von Angst, aber doch von Beklommenheit, das mich auf unserer Fahrt begleitet. Ich bin „Städterin“, es ist nicht „mein Revier“, und ich habe vor den Bergen großen Respekt.
Die Gedanken kommen und gehen
Schon bald heißt es „Endstation, alle aussteigen!“ Zunächst einmal gilt es, die Stirnlampen zu befestigen und einzuschalten, damit sich jeder selbst seinen Weg leuchten kann. Die Schritte müde, der Atem sichtbar, an diesem kühlen Morgen Anfang August in den Stubaier Alpen. Der Tross setzt sich in Bewegung. Langsam. Schritt für Schritt. Einatmen. Ein Schritt. Ausatmen. Der nächste Schritt. Um diese Uhrzeit ist es nicht nur ganz finster, sondern auch total still. Man hört keine Geräusche, zum Beispiel von Tieren, die hier unterwegs sind. Auch keinen entfernten Straßenlärm. Nur den Atem meines Vorder- und Hintermannes. Einatmen. Ausatmen. Schritt für Schritt die erste Anhöhe hinauf. Nur nicht zu schnell. Auf den ersten Metern rast der Puls in die Höhe, bevor er sich langsam beruhigt und einen gleichmäßigen Rhythmus vorgibt. Einatmen. Ausatmen. Noch ein Schritt. Der Schein der Lampe weist uns den Weg durch die noch finstere Berglandschaft. Durch das regelmäßige Atmen beruhigen sich langsam auch meine Gedanken. Drop the thought – Gedanken einfach weiterziehen lassen! Wie oft mühe ich mich damit im Alltag ab, wenn der Kopf voll ist von Sorgen, Fragen, Herausforderungen. Wenn alles „jetzt gleich“ gelöst werden soll. Was ohnehin nicht gelingt und das Leben nicht besser macht. Wenn der „Gedankenbrei“ klebrig und schwer ist. Einatmen. Ausatmen. Ich spüre den kalten Luftstrom in der Nase, im Hals, bis in die Lunge. Die Gedanken kommen und gehen.
Dort oben ist die Welt eine andere
Nach etwa zwei Stunden Gehzeit haben wir die erste Anhöhe erreicht. Es ist noch kalt an diesem frühen Morgen, innerlich ist mir aber schon warm, ich schwitze bereits leicht. Die Augen sind immer noch schwer und müde, aber voller Vorfreude auf den bevorstehenden Sonnenaufgang. Ich habe schon einige Sonnenaufgänge erlebt, meist nach durchgearbeiteten Nächten, wenn es galt, Fernsehbeiträge und Sendungen fertigzustellen. Bis Mitternacht geht es meist noch ganz gut, um vier Uhr früh dann ein Einbruch, alles wird langsam, schläfrig und schwer. Die Stunde danach dann eigenartig high, adrenalingetränkt. Wenn du dann den Schneideraum verlässt, hinausgehst in den Tag, bettschwer ins Auto steigst, nach Hause fährst, während für alle anderen gerade der Tag erwacht und sie im Frühverkehr zur Arbeit stauen. Sonnenaufgänge tauchen die Stadt in ein besonderes Licht, schaffen eine besondere Stimmung. Urbane Poesie in Asphalt, Beton, Glas und Stahl. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Rund um mich die Dreitausender der Stubaier Bergwelt, bis nach Südtirol wird man heute sehen. Im Moment noch wie ein scharfer Scherenschnitt zeigt sich das weite Bergpanorama. Während unseres Aufstiegs beginnt es zu dämmern, die Dunkelheit der Nacht weicht einer blauen Stunde, die sowohl die nähere als auch weitere Umgebung bereits erahnen lässt und den Blick ins Tal eröffnet.
Drop the thought – die Gedanken einfach weiterziehen lassen
Der Aufstieg auf einen Berg ist ja immer wieder symbolhaft für das Fortschreiten des eigenen Lebens. Mit jedem Schritt wird es beschwerlicher, aber die Aussicht, der Überblick wird größer, weiter …
Barbara Stöckl wurde als drittes von fünf Kindern in Wien geboren. Seit 1981 ist sie in der Medienbranche tätig und arbeitet als Fernsehjournalistin, -produzentin und Moderatorin. Sie gestaltete und moderierte zahlreiche TV-Sendungen für ZDF und ORF. Neben dem Fernsehen ist sie als freie Journalistin, und Autorin tätig.
Den ganzen Artikel von Barbara Stöckl finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 5/2022
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