Was zeichnet eigentlich einen selbstbewussten Menschen aus? Wie kann ich lernen, mich selbst mehr wertzuschätzen? Mariele Diehl auf der Suche nach Antworten.
Was ist, wenn ich dir sage, dass jeder Mensch eine Löwin in sich hat? Dass sie bei manchen Menschen aber schläft? Vielleicht sagst du: „Kann ja sein, dass manche eine Löwin in sich haben, doch bei mir ist es nur eine Blattlaus oder eine Straßentaube.“ Auch ich dachte einmal, bei mir sei etwas schief gelaufen. Dass ich keine Löwin hätte. Denn niemand beschützte mich, wenn andere etwas Fieses sagten. Ich wehrte mich nicht. Und anstatt auf Pranken und Krallen zu treffen, trafen ihre Worte direkt mein Herz.
Wer sich selbst nicht vertraut, lebt in ständiger Unsicherheit
Doch vor ein paar Jahren habe ich sie Schnarchen gehört, meine Löwin. Unruhig bewegte sie sich im Schlaf. Ich stand vor der größten Herausforderung meines Lebens: Eine neue Stadt, neue Gesichter, ein neues Kapitel lagen vor mir. Und ich wusste, dass ich jetzt die Löwin brauchen würde. Weil das Leben ohne Selbstvertrauen schwer ist. Der Himmel voller Ängste, der Boden vor lauter Selbstzweifeln zersprungen. Einfache Aufgaben wie Einkaufen und Telefongespräche können dann zu Herausforderungen werden. Und die großen Aufgaben, etwa eine PartnerIn zu finden oder ein Leben zu führen, das einen erfüllt, scheinen so groß, dass wir sie nicht einmal angehen.
Wer sich selbst nicht vertraut, lebt in ständiger Unsicherheit. Man traut den eigenen Augen nicht, den eigenen Ohren, dem eigenen Lächeln. Passiert dann ein Fehler, suchen wir sofort die Schuld bei uns selbst, werden zu Schuldmagneten. Ein Missverständnis bei der Arbeit? Meine Schuld. Die Tränen der Tochter? Meine Schuld. Der Stau auf der A40, die Corona-Krise, der Klimawandel? Alles meine Schuld.
Unser Selbstbild ist geprägt davon, dass wir für andere da sind, zuerst an alle anderen denken
Gleichzeitig halten wir uns für total harmonisch. Wenn wir etwas Positives über uns sagen müssten, wählen wir Worte wie „nett“, „gute Zuhörerin“ und „nicht nachtragend“. Unser Selbstbild ist geprägt davon, dass wir für andere da sind, zuerst an alle anderen denken, zuletzt an uns selbst. Doch ist das wirklich, was wir sind? Sind wir harmonisch, oder gehen wir Konflikten aus dem Weg, weil wir uns nicht wehren können, weil wir uns schutzlos fühlen, nackt, ohne Sicherheitsweste? Die anderen gehen doch in jeden Streit hinein, bepackt mit Wort-Messern und Gefühls-Pistolen. Die beherrschen das Rhetorik Kung Fu, haben ihren Schlachtplan studiert.
Wir halten uns für wertlos, unnütz, nicht liebenswert.
Wir dagegen ergeben uns, noch bevor der Streit richtig begonnen hat, nehmen alle Kritik, alle Schimpfe und Anschuldigungen an, schlucken sie herunter und bitten um Gnade. Auch unter unserer „Nettigkeit“ verbergen sich oft Ängste. Wir haben Angst, nicht mehr gemocht zu werden, wenn wir nicht immer freundlich und zuvorkommend sind. Warum sollte man uns auch sonst mögen? Im Spiegel glauben wir die Wahrheit zu sehen: Eine Zahl steht auf unserer Stirn geschrieben. Es ist unser Selbstwert. Er ist gering. Wir halten uns für wertlos, unnütz, nicht liebenswert. Die anderen haben auch Zahlen. Sie geben ihren Wert aus unseren Augen an. Deren Zahlen sind höher, das zehn- zwanzigfache der unsrigen. Anderen Menschen, ihren Meinungen geben wir so die oberste Priorität in unserem Leben.
Hohes Selbstvertrauen geht einher mit Unsicherheit
Obwohl mangelndes Selbstvertrauen uns klein und verletzlich macht, hat auch hohes Selbstvertrauen einen schlechten Ruf. Als Protze werden Personen bezeichnet, die prahlerisch nach außen ihren Besitz und Status zur Schau stellen. Die mit grölendem Antrieb im Sportwagen durch die Fußgängerzone fahren, nur um allen zu beweisen, was für ein toller Hecht sie doch sind. „Großes Maul und nichts dahinter“ wird abfällig über sie gesagt. Dann doch lieber bescheiden und zurückhaltend sein. Sich selbst zu unterschätzen, wird gerade bei Frauen sogar als Tugend gesehen. Sie können dann (meistens von einem Mann) entdeckt werden und (dank ihm) lernen, wie wertvoll sie eigentlich sind.
Lieber bescheiden und zurückhaltend?
Doch haben Menschen, die nach außen hin darstellen, die Coolsten und Erfolgreichsten zu sein, zwangsläufig einen hohen Selbstwert? Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall. Personen mit starken Unsicherheiten, was ihr Aussehen, ihr Einkommen oder ihre Fähigkeiten anbelangt, haben oft das Bedürfnis, dies mit einer besonders dicken Schicht selbstverliebtem Gehabe übertünchen zu müssen. Sie haben Angst vor dem, was sie im Spiegel sehen könnten, wenn sie sich nackt machen, also behängen sie sich mit teuren Uhren, Luxusklamotten und BlingBling. Auch sie sehen eine Zahl auf ihrer Stirn, haben jedoch einen anderen Weg gefunden, damit umzugehen. Besonders deutlich sieht man das an Narzissten: Sie gelten als selbstsüchtige Egomanen. Dahinter stehen aber meist Menschen mit einem sehr instabilen Selbstwertgefühl. Sie können sich eben nicht „selbst vertrauen“, sondern brauchen andauernd Bestätigung und Zuspruch von außen, um sich wertvoll zu fühlen.
Innere Kraft kommt mit der Akzeptanz der Schwächen und Stärken
Mit der inneren Löwin hat das wenig zu tun. Wahre Stärke kommt aus Selbsterkenntnis und Akzeptanz. Ein Mensch mit Selbstvertrauen sieht sich selbst nicht als den besten von allen. „Besser“ oder „schlechter“ sind für ihn keine Kategorien. Denn er muss sich nicht mit anderen vergleichen, um sich wertvoll zu fühlen. Er weiß, dass er wertvoll ist, egal wie viel Geld er in der Tasche hat oder wie symmetrisch sein Gesicht ist. Und deshalb kann er auch seine Schwächen akzeptieren. Er verzeiht sich Fehler, weil er weiß, dass er manche Dinge noch lernen muss. Er kann über sich lachen und sich selbst tröstend auf die Schulter klopfen. Denn er muss nicht in allem gut sein, muss nicht immer gewinnen. Und trotzdem kann er auf sich vertrauen. Gerade weil er weiß, wo seine Schwächen liegen. Einem Seil, über das man weiß, wie viel Gewicht es tragen kann, wo es Schwachstellen hat und wo man es behutsam handhaben muss, dem vertraut man sich lieber an, als einem Seil, über das man all diese Informationen nicht hat. Es könnte jeden Moment reißen.
Mariele Diehl
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