Die Kunst, sich zu entschuldigen

Weniger Sorry, mehr Selbstvertrauen: Tara-Louise Wittwer zeigt, wie uns ein achtsamerer Umgang mit Entschuldigungen hilft, ehrlicher mit uns selbst und anderen umzugehen.

Wie viele Situationen fallen dir ein, in denen du dich in letzter Zeit für etwas entschuldigt hast? Womöglich waren es nicht einmal die Dinge, für die eine Entschuldigung angebracht gewesen wäre. Wie etwa, wenn du in einem Gespräch etwas Verletzendes gesagt hast oder eine Grenze von jemandem überschritten hast. All zu oft entschuldigen wir uns für alles Mögliche: „Sorry, ich muss jetzt nach Hause gehen.“ „Tut mir leid, aber ich brauche heute etwas Zeit für mich.“ „Entschuldigung, ich sehe das anders als du.“ Aussagen dieser Art sind alltäglich geworden. Dabei ist es doch erstaunlich, dass Menschen sich so oft für etwas entschuldigen, das eigentlich keinerlei Entschuldigung oder Rechtfertigung bedarf. Dies führt oft dazu, dass wir uns auch dann entschuldigen, wenn es gar nicht nötig ist – für unsere Meinungen, unsere Bedürfnisse und unser authentisches Selbst. Tut mir zwischen all dem Entschuldigen überhaupt noch irgendwas wirklich leid? Wie leer ist die Hülle dieser Phrase, und sollten wir nicht mehr Wörter haben, um unsere Reue zu zeigen?

Das „Sorry“-Muster: Mich selbst kleiner machen als ich bin

Schon während meiner Schulzeit hatte ich das Gefühl, mich ständig entschuldigen zu müssen: Wenn ich bessere Noten hatte als meine beste Freundin oder mein Mittagessen nicht aufgegessen hatte. Auch als ich älter wurde, hörte das ständige „Sorry“ nicht auf. Eine Aussage wie „Sorry, ich kann heute nicht kommen“ wurde zur Gewohnheit. Ich entschuldigte mich selbst bei Menschen, die mich angerempelt haben – schließlich war ich ja diejenige, die im Weg stand.
Ein Schlüsselmoment kam, als mich einmal jemand fragte: „Warum entschuldigst du dich immer für alles?“ Bis dahin war mir mein Verhaltensmuster nie aufgefallen. Und was sollte daran denn falsch sein? Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich mich dadurch selbst immer kleiner machte als ich tatsächlich war. Ich wollte niemanden enttäuschen und Harmonie herstellen, vernachlässigte dabei aber meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen. Durch intensive Selbstreflexion und viel Übung habe ich gelernt, öfter zu hinterfragen, ob eine Entschuldigung wirklich angebracht ist.

Entschuldigungen als soziale Normen

Das ständige Entschuldigen kennt auch die Bestsellerautorin und Content-Creatorin Tara-Louise Wittwer nur zu gut. Sie hat unsere Entschuldigungskultur auf eine scharfsinnige und humorvolle Weise analysiert und berichtet dabei auch von ihren eigenen Erfahrungen von der Jugend bis ins Erwachsenenalter. Dabei fragt sie sich, ob uns wirklich alles so Leid tut, wie wir behaupten, und ob eine Entschuldigung tatsächlich alles wieder in Ordnung bringen kann. „Der Akt des Entschuldigens ist schon sehr lange fester Bestandteil zwischenmenschlichen Zusammenlebens und ein wichtiger Teil sozialer Normen“, erklärt Wittwer. Entschuldigungen veränderten sich, abhängig von kulturellen Ritualen, Sozialisierungen oder gesamtgesellschaftlichen Erwartungen. Dabei spielten viele Aspekte eine Rolle: Wer entschuldigte sich bei wem? In welcher Position standen die Menschen zueinander, und wie sollte die Sache mit dem Verzeihen funktionieren?“

Die Rolle des Geschlechts

Ob wir uns für etwas entschuldigen, ist von mehreren Faktoren abhängig. Neben dem Verantwortungsgefühl und der Schwere des Vergehens spielt auch das Geschlecht eine entscheidende Rolle – denn vor allem Frauen entschuldigen sich ständig. Die Autorin führt dies hauptsächlich auf Sozialisierung und historische Entwicklungen zurück. „Frauen werden darauf konditioniert, sich selbst kleinzumachen, was sich dann durch das ganze Leben zieht und selbst jemanden wie Taylor Swift an sich zweifeln lässt“, so Wittwer. Dazu gehört auch die Erwartung der Gesellschaft, dass Frauen „angenehm“ sein, nicht auffallen und nicht zu laut sein sollen.
Dass Frauen sich mehr entschuldigen als Männer, ist nicht nur ein subjektives Empfinden, sondern sogar wissenschaftlich belegt. Tara-Louise Wittwer verweist auf die Studie „When and Why Women Apologize More than Men“ von Katarina Schumann der Waterloo University in Kanada (2013). Dafür wurden Männer und Frauen für sechs Tage in unterschiedlichen Situationen auf ihr Verhalten getestet. Die Ergebnisse zeigen nicht nur, dass Frauen sich häufiger entschuldigen, sondern auch, dass sie die Notwendigkeit schneller sehen als Männer: „Einer der Hauptgründe dafür, dass Frauen sich häufiger entschuldigen als Männer, ist ein anderes Empfinden von Schuld, erklärt die Psychologin Karina Schumann. Das bedeutet, dass Männer viele Dinge, die sie tun, nicht als ‚entschuldigenswert‘ empfinden.“

Das Phänomen des People Pleasing

Für Menschen, die sich ständig entschuldigen und andere Bedürfnisse über die eigenen stellen, gibt es sogar einen Begriff: People Pleaser. Durch ihre übermäßige Anpassung verhindern sie oft, dass es überhaupt zu einer Situation kommt, die eine Entschuldigung erfordern würde. Wittwer beschreibt dies mit einer Metapher: „People Pleaser nehmen den Feuerlöscher zur Hand, noch bevor es zum Brand kommt, quasi provisorisch alles einschäumen, dann kann auch nichts passieren.“ Dahinter steckt meist ein tiefer Wunsch nach Harmonie und Anerkennung. People Pleaser setzen alles daran, es allen recht zu machen und niemanden zu enttäuschen. Diese ständige Selbstvernachlässigung kann auf Dauer jedoch sehr ermüdend sein, wie auch die Autorin Tara-Louise Wittwer am eigenen Leib erfahren musste: „Me first, nur andersrum war immer meine Parole. Ich habe immer anderen mehr als mir gegeben und gedacht, dass das meine Verpflichtung sei. Ich habe mich oft bis zur Selbstaufgabe getrieben und erst danach gemerkt, wie ausgelaugt und leer ich war.“ People Pleasing ist zwar keine Krankheit, macht die Betroffenen aber besonders anfällig für ein Burn-Out-Syndrom. „Das Burn-out-Syndrom trifft vor allem Menschen, die sich für andere aufopfern“, erklärt Wittwer. „Der Begriff wurde 1974 das erste Mal vom Psychoanalytiker Herbert Freudenberg eingeführt. Er sprach über die Beschwerden von Menschen, die in sozialen oder Pflegeberufen arbeiteten und sich so stark verausgabten, dass sie unter anderem vergaßen, auf sich selbst zu achten.“

Die Kunst der bewussten Entschuldigung

Natürlich sollten wir uns das Entschuldigen nicht grundsätzlich abgewöhnen. „Entschuldigungen sind unter anderem da, um zu heilen. Wir brauchen die Bestätigung, dass jemand anderes anerkannt hat, dass er oder sie uns etwas angetan hat, was uns in irgendeiner Weise in unserem Leben beeinträchtigt, verletzt oder geschädigt hat“, so Wittwer. „Oft ist es aber so, dass Entschuldigungen nicht wesentlich dazu beitragen, den Schmerz zu verarbeiten. Auf welche Art und wie lange man Schmerz verarbeitet, ist allerdings individuell.“

Zum Weiterlesen: Tara-Louise Wittwer, Sorry, aber …, Droemer Knaur Verlag, 18 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2024

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