Das Alleinsein ist ein Aufruf dazu, sich mehr sich selbst zuzuwenden. Eine Aufgabe, an der man wachsen kann. Franziska Muri lebt und arbeitet allein. Warum sie das liebt, beschreibt sie hier.
An meinen eigenen Umgang mit einem schon recht extremen, nicht wirklich freiwilligen Alleinsein vor einigen Jahren erinnere ich mich manchmal, wenn ich Marienkäfern oder anderen Insekten aus der Wohnung heraushelfe. Sie flattern oder krabbeln an der Fensterscheibe herum und weigern sich hartnäckig, einmal kurz über den Holzrahmen zu gehen, obwohl dort der zweite Fensterflügel geöffnet ist. Auf der anderen Seite des Holzes wartet die Freiheit – doch der Rahmen scheint ihnen der falsche Weg zu sein, immer dort kehren sie um. Verständlich, denn er versperrt ihnen die Sicht nach draußen. Das, wohin sie wollen, wirkt von dort aus noch ferner. Wie nicht mehr existent. Und so vollführen sie, manchmal über Stunden, einen kräftezehrenden Kampf des immer gleichen Versuchens und Scheiterns. Die Scheibe gibt sie nicht frei – während das Fenster daneben weit offen steht. Doch das wissen sie nicht und in ihrem blinden Kampf können sie es auch nicht erfahren. Wenn ich dann zu helfen versuche, wird es nicht gleich besser. Panik kommt hinzu. Etwas übermächtig Großes drängt das kleine Tierchen in Richtung Dunkel und so kämpft es sich mit aller Kraft immer neu zurück ins Licht. Leider nur bleibt es dort weiterhin an der Scheibe hängen, an diesem unverständlich unsichtbaren und doch schmerzhaft existenten Ding. Heftige Aufregung, Verzweiflung …
Das Leben geht weiter – frei und weit
Ich habe mittlerweile Übung und meist gelingt es mir schnell, fliegende Insekten mithilfe eines Blattes Papier vorsichtig über den Rahmen zu nötigen. Oder ich stülpe ein Glas über sie und schiebe eine Postkarte darunter. Wenn ich dieses kleine Kurzzeitgefängnis, in dem sich das Biestchen wiederum panisch oder bereits resigniert benimmt, in der Weite des offenen Fensters öffne, fliegt es nach kurzem Zögern davon. Ich selbst spüre die große Erleichterung: Es war schlimm, es war zum Verzweifeln, Ratlosigkeit und Angst waren die herrschenden Kräfte vor allem in den letzten Sekunden – doch nun ist gerade durch das Geschehen in diesen letzten Sekunden die Freiheit da. Das Leben, das in einer Sackgasse zu enden schien, geht weiter. Frei und weit, mit all dem unermesslichen Potenzial, das es auszumachen pflegt.
Wie wäre es, denke ich manchmal in diesen Momenten, in denen so ein Käfer, so eine Fliege, so eine Wespe wieder in die Unendlichkeit eintaucht, wie wäre es, wenn das Leben es mit uns ähnlich macht wie ich mit diesen Insekten? Wenn es uns liebevoll wissend dorthin drängt, wo wir einen Ausweg finden, auch wenn er in genau der Richtung liegt, in die wir niemals freiwillig gehen würden: noch tiefer hinein in Angst und Dunkel und genau dadurch ins Licht? Es weiß um die höheren Gesetze, die wir nicht überschauen, ebenso wie ich um die Erfindung der Fensterscheibe weiß, die dem Insekt ein unangenehmes Rätsel bleibt.
Wie also wäre es, wenn uns das Leben auf die jeweils nächste Stufe unserer Entwicklung zu heben versucht, indem es uns Wege zeigt, die wir niemals zu beschreiten gewagt hätten, die aber genau dorthin führen, wohin wir uns sehnen? Wir alle kennen das bereits von unserem allerersten Weg: dem durch den Geburtskanal. Während wir uns da, am Anfang unseres Lebens, noch vertrauensvoll auf die größeren Kräfte einließen, können uns spätere Krisenerfahrungen in einen destruktiven Kampf bringen. Wie ich bei den Insekten muss uns dann auch das Leben manchmal uns selbst überlassen und warten, bis unsere Kräfte schwinden, bis wir das Toben und Wüten lassen, währenddessen es keine Rettung gibt. Oft können uns erst in einer gewissen Erschöpfung die wohlmeinenden Hinweise erreichen, die uns dorthin führen, wohin wir gehören: in die Weite zwischen Himmel und Erde, wo wir genährt sind und wachsen können.
Durchtauchen statt Weglaufen
Alleinsein kann eine wundervolle Erfahrung sein. Für die meisten von uns ist es das aber nicht von Anfang an. Wir können sehr daran leiden. Und doch werden wir alle immer wieder Phasen des Alleinseins haben. Zu positiven, wertvollen Erfahrungen werden sie erst, wenn wir sie annehmen. Wenn wir nicht mehr vorm Alleinsein weglaufen, sondern unseren Mut zusammennehmen, uns umdrehen und ihm ins Gesicht schauen. Vielleicht merken wir dann, dass es uns freundlich zunickt. Dass es uns anlächelt und uns einlädt, sich ihm anzuvertrauen und dabei über uns hinauszuwachsen. Hinein in unsere wahre Stärke. Das Alleinsein kann zu einem Freund werden, der uns immer begleitet, der uns mal näher ist und mal beinahe vergessen hat. Wenn er kommt, dann nie mit leeren Händen, nie ohne Geschenke. Das Durchtauchen führt aus meiner Erfahrung dazu, dass man es lieben lernt und selbst Momente der Einsamkeit gut durchleben kann. Zugleich aber führt es auch in eine neue und intensivere Verbundenheit mit anderen. Wie Patricia Tudor-Sandahl schreibt: „Der Mensch ist ein soziales und zugleich einsames Wesen, mit dem Bedürfnis ausgestattet, sowohl für sich zu sein als auch in enger Beziehung zu anderen zu stehen. Sich zwischen diesen Zuständen frei hin und her bewegen zu können – darin liegt der Schlüssel zum ganzen und reifen Menschen.“
Alleinsein als Aufruf zur Selbstliebe
In genau dieser Aufgabe liegt die große Chance des Alleinseins. Denn meist ist es diese Seite der Medaille, die wir (noch) nicht ertragen. Sich ihr zu stellen, führt uns dazu, ganz zu werden, ein vollständiger Mensch.
So drückt es auch Anselm Grün aus: „Doch um die einmalige Person zu werden, die ich bin, ist es notwendig, die eigene Einsamkeit anzunehmen. Sie gehört zu mir. Und nur, wenn ich mich damit aussöhne, werde ich wirklich erwachsen, werde ich wirklich eine Person, die in Beziehung ist zu sich selbst und zugleich offen für andere Personen.“ So sehr uns andere bereichern können und so sehr wir sie erfreuen, nähren, lieben können, das Zentrum unseres Lebens können nur wir selbst sein. Das kann egoistisch gelebt werden, aber dann wurde etwas falsch verstanden. Selbstliebe ist kein Egoismus. Sie ist ab einem gewissen Punkt nicht einmal mehr etwas Persönliches. Die Vielfalt des Lebens lässt sich nämlich auch in uns erfahren. Wir können die uns hier geschenkten Jahrzehnte dafür verwenden, das Leben am Beispiel der eigenen Person zu erforschen. Denn wen könnten wir besser kennen, wem könnten wir näherkommen? Dabei geht es nicht um das Gefühl, dass wir uns selbst so toll finden. Es geht um das Phänomen Leben, das wir in dieser Gestalt am einfachsten erfahren und erkunden können, weil sie in allen Lebenslagen bei uns ist. Sie ist eine Welle im Ozean, die sich inmitten der anderen Wellen erfährt.
Franziska Muri (aus “21 Gründe, das Alleinsein zu genießen”)
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