Unsere moderne Gesellschaft scheint Ruhe und Stille zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Doch nur wenn wir uns vom ständigen Lärm um uns herum nicht mehr ablenken lassen, eröffnet sich die Chance, im eigenen Leben vorbeizuschauen.
Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin“, zitiert der koreanische Zen-Mönch Haemin Sunim den Schriftsteller Hermann Hesse. „Dieser Satz lehrt uns“, schreibt Sunim, „dass wir letztendlich unser Leben führen, um uns selber zu finden, unabhängig davon, welche Form unser Leben jetzt auch haben mag.“ Aber warum ist der Weg, der zu uns selbst führt, so schwer zu finden? Immer wieder machen wir uns auf die Suche, ahnen die Richtung, stolpern los – und landen an seltsamen Orten, meist jedoch nicht bei uns selbst. Was steht zwischen uns und dem Ziel?
Nur in der Stille entdecken wir unsere ureigensten Wünsche und Bedürfnisse
„Die moderne Gesellschaft scheint unserer Seele keinen Augenblick zu gönnen, sich in der Stille auszuruhen“, stellt Sunim fest. Der Bestsellerautor spricht aus eigener Erfahrung. Als ehrgeiziger junger Mann wanderte er in die Vereinigten Staaten aus, studierte in Berkeley, Harvard und Princeton und lehrte als Professor sieben Jahre lang Religionswissenschaften. Für die Universitätslaufbahn hatte er sich nicht bewusst entschieden, er schlug sie ein, weil er glaubte, dass andere genau das von ihm erwarteten. Mit der Zeit bemerkte er jedoch, dass er kein wirklich hervorragender Wissenschaftler werden würde, schon weil man dazu geschickt für Drittmittel werben, mit anderen Forschern Kontakte knüpfen und möglichst viele Forschungsarbeiten publizieren musste. Erst allmählich dämmerte ihm, dass er nicht das Leben der anderen führen, sondern sich dem Buddhismus und einem spirituellen Leben widmen wollte. Schließlich kehrte er nach Korea zurück, ging in ein Zen-Kloster und ließ sich dort als Mönch ordinieren.
Müssen wir tatsächlich erst als Nonnen und Mönche hinter Klostermauern verschwinden, um uns selbst näher zu kommen? Natürlich nicht! Der entscheidende Punkt ist nicht, dem weltlichen Leben für immer und ewig zu entsagen, sondern uns inmitten all des Trubels immer wieder Zeit für uns selbst zu nehmen. Nur in Stille und Ruhe entdecken wir unsere ureigensten Wünsche und Bedürfnisse und können ihnen dann den nötigen Raum zur Entfaltung verschaffen.
Im Reich des Tun-und-Denkens
Im stressigen Alltag ist unser Streben darauf ausgerichtet, etwas zu erreichen. Den Großteil unserer wachen Zeit verbringen wir in der klaffenden Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit, stets darauf bedacht, die Lücke zu schließen. In diesem Reich des Tun-und-Denkens gibt es keine Pausen, Stillstand ist Rückschritt, unsere Gedanken sind stets einen Schritt voraus, nebendran oder hinterdrein, das Licht am Ende des Tunnels bleibt in weiter Ferne. „Haben wir ein Ziel erreicht“, so Sunim, „dann wartet auf uns ein anderes, noch wesentlich größeres Ziel, und wir strengen uns wieder an, um dieses neue Ziel zu erreichen.“
Die Konzentration liegt auf dem Lückenschluss. Gelingt er, ist es gut, gelingt er nicht, ist es schlecht, und wir haben versagt. Richtig ist, was die Lücke schließt, falsch, was sie vergrößert. Haben wir eine Aufgabe erfolgreich erledigt, genießen wir nicht die Vollendung unseres Werks, sondern stürzen uns auf die nächste Lücke, sodass das Leben zum Wenn-Dann-Versprechen einer nebulösen Zukunft verkommt. „Das Glück, die Gelassenheit und der Frieden, alles, was wir schließlich erreichen wollen, erleben wir erst“, so erklärt Sunim das Dilemma des modernen Menschen, „wenn unser Geist sein andauerndes Streben nach Mehr loslässt.“
Zum Weiterlesen: Haemin Sunim, In der Stille findet das Glück dich leichter, Scorpio Verlag, 18 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 1/2021
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