Tagtraum: Das Träumen mit offenen Augen nimmt einen überraschend großen Teil unserer Wachzeit in Anspruch. Und das ist gut so.
Kinder leben in ihren Tagtraum. Jeden Tag. Wenn sie drauf und dran sind, gegen die nächste Straßenlaterne zu laufen, dann ermahnen wir sie gern: „Hör auf, vor dich hinzuträumen!“ „Hören Sie auf zu träumen und fangen Sie an zu handeln“, so heißt es auch in ambitionierten Ratgebern, die uns zeigen wollen, wie wir den Erfolg in unser Leben ziehen. Im Hier und Jetzt sollen wir sein, bloß nicht abschweifen und den Fokus verlieren. Wir sollen unsere Zeit mit sinnvollen Tätigkeiten verbringen. Mit solchen, die uns im Leben voranbringen, anstatt sie mit nutzloser Tagträumerei zu verschwenden. Kurzum: handeln statt träumen! Ratschläge wie diese bekommen wir nur allzu häufig, wenn es darum geht, ein erfolgreiches Leben zu führen. Tagträume gelten bestenfalls als Pausenfüller, mit deren Hilfe wir uns anschließend wieder ganz auf sinnvolle Aktionen im Hier und Jetzt konzentrieren können. Doch wer einmal etwas tiefer in die Welt der Tagträume eintaucht, wird sehr schnell feststellen, dass unsere alltäglichen Fantast-ereien viel bedeutsamer sind. Wir können sie sogar effektiv dafür nutzen, um ein bewusstes und erfülltes Leben zu führen. Allein aktives Handeln führt zum Erfolg? Wenn Sie diese These bisher als ein Kernprinzip Ihres Lebens angesehen haben, werden Sie überrascht sein, wie produktiv uns gerade das Nichtstun, das Tagträumen macht.
Von der Produktivität des Tagträumens
Ich tue selbst sehr gerne nichts. Tatsächlich bin ich problemlos in der Lage, mich stundenlang mit gar nichts zu beschäftigen. Nichts schließt in diesem Fall alles aus, was in der Außenwelt um mich herum stattfindet. Mich mit nichts zu beschäftigen meint immer auch eine Innenschau: Ich richte den Blick auf mich selbst und gebe mich ganz meinen Gedanken und Fantasien hin. Die Tatsache, dass das Tagträumen generell gerne mit dem Konzept des Nichtstuns gleichgesetzt wird, sagt schon einiges über den Stellenwert aus, den wir unseren Tagträumen zuordnen. Kein Wunder also, dass mich nach einer ausgiebigen Phase der Tagträumerei in der Regel das schlechte Gewissen plagt. Schließlich hätte ich meine kostbare Zeit auch produktiver nutzen können. Schon wieder nichts geschafft, erneut vertane Zeit. Alles wäre produktiver gewesen als Nichtstun, oder? Doch wie vertane Zeit fühlt es sich keineswegs an. Nicht selten fühle ich mich nach einer langen Tagtraum-Session ruhiger, stärker und zufriedener. Und das ist auch nicht sonderlich überraschend, wenn man bedenkt, worauf meine Gedanken vorrangig ausgerichtet sind: Ich denke mich in Situationen hinein, die mir gefallen und mir guttun. Dann bekomme ich endlich die Anerkennung für meine Arbeit, die ich mir schon so lange wünsche. Mein Angebeteter steht endlich zu seinen Gefühlen. Oder ich sinniere über Ereignisse nach, die in meiner persönlichen Vergangenheit passiert sind. Allerdings immer mit kleinen Nuancen, die ein wenig von der Realität abweichen: So wirke ich prinzipiell selbstsicherer und souveräner. Auf den Spruch meines Vorgesetzten zum Beispiel, der mich damals so aus dem Konzept gebracht hat, entgegne ich in meinen Tagträumen ganz locker und flockig etwas Schlagfertiges, was meinem realen Ich im Hier und Jetzt stets ein zufriedenes Lächeln entlockt. „Tagträume sind nichts Zufälliges, sind keine Abfallprodukte des Geistes“, so Heiko Ernst, Autor von „Innenwelten – Warum Tagträume uns kreativer, mutiger und gelassener machen“. Sie „sind ein idealer Zugang zu dem, was uns im Innersten zusammenhält. Sie konstituieren maßgeblich unser Selbst. Denn sie spiegeln wider, was wir eigentlich vom Leben erhoffen und erwarten, sie spiegeln unsere Wünsche“. Wohl jeder hat sich schon einmal beim Fantasieren über private Wünsche und geheime Sehnsüchte erwischt. In welchem Ausmaß wir solchen Tagträumereien tatsächlich nachgehen, ist denn auch überraschend.
„Wer am Tag träumt, erkennt viele Dinge,
die dem entgehen, der nur nachts träumt.“
(Edgar Allan Poe)
Wir träumen am Tag viel mehr, als wir denken
„Wir driften sehr viel öfter nach innen, als wir glauben oder schätzen“, sagt Ernst, der sich dabei auf eine Harvard-Studie aus dem Jahr 2010 bezieht. „An durchschnittlichen, eher ereignisarmen und routinegeprägten Tagen verbringen wir bis zu 40 oder gar 50 Prozent der Wachzeit im Reich der Fantasie.“
So utopisch diese Zahl auf den ersten Blick klingen mag, so scheint sie noch unglaublicher, wenn man bedenkt, dass sie von Person zu Person kaum variiert. Nur empfindet das jeder anders. Diejenigen von uns, die von sich behaupten, kaum zu tagträumen, tun dies in der Regel mehr als sie denken. Sie sind sich dessen bloß nicht bewusst. Selbst wenn wir uns intensiv auf eine Sache konzentrieren, schweifen wir stets für ein paar Sekunden ab und lassen unsere Gedanken über Zukünftiges oder Vergangenes sinnieren. Das passiert ganz automatisch. Tatsächlich ist unsere Psyche nicht in der Lage, ihre Aufmerksamkeit über eine längere Zeitspanne in der Realität zu belassen. Tagträume als sinnloser Zeitvertreib? Wohl kaum! Vor dem Hintergrund der Häufigkeit, wirkt es schon fast anmaßend, dieser menschlichen Fähigkeit so wenig Nutzwert beizumessen.
Genaugenommen benötigen wir das Schwelgen in unserer eigenen Gedankenwelt sogar zwingend. Die Natur hat uns nicht zufällig mit dieser Eigenschaft ausgestattet – Tagträume üben eine äußerst wichtige Funktion aus.
Tagträume sind effektiver als jedes Stück Schokolade
Ernst beschreibt die Funktion des Tagträumens als äußerst wirksame Form des Gefühlsmanagements. „Tagträume sind ein wichtiges Instrument emotionaler Selbstregulierung in Lebenssituationen, die wir zumindest momentan (noch) nicht durch Handeln verändern können. Sie verschaffen uns Trost, Sicherheit, Hoffnung, aber auch Genuss.“
Man könnte also sagen, dass Tagträume fundamental dafür verantwortlich sind, uns die eigene psychische Gesundheit zu bewahren. Denn wenn wir diese Art der Innenschau betreiben, dann fantasieren wir in den seltensten Fällen über surreale Gegebenheiten, wie es in der Regel in den nächtlichen Träumen passiert. Nein, dadurch dass wir beim Tagtäumen wach sind, richten wir unsere Gedanken gezielter aus. Grund dafür ist, dass unser Verstand, der direkt an die Außenwelt gekoppelt ist, nicht schläft, sondern ganz aktiv an der inneren Gedanken- und Bilderwelt teilnimmt.
Tagträume enthüllen unsere geheimsten Sehnsüchte und tiefsten Ängste.
Gleichzeitig ist das, worüber wir tagträumen, immer auch mit unserem Unterbewusstsein verknüpft. Es fügt den aktuellen Herausforderungen unseres Lebens eine Lösung hinzu, mit der wir uns gut fühlen. Es beruhigt uns und nimmt uns zu einem nicht unerheblichen Maße die Angst, etwa vor diesem längst überfälligen Beziehungsgespräch mit dem Partner. Es präsentiert eine oder mehrere mögliche Auflösungen der verzwackten Situation.
Wir selbst sind in diesen Simulationen stets ein bisschen zu unserem Vorteil verändert. Wir wirken selbstsicherer, stärker und ausgeglichener, als es in der Wirklichkeit der Fall ist. Diese feinen Anpassungen ins Positive stabilisieren unsere Emotionen und machen etwa unausweichliche Konversationen, vor denen wir Angst haben, erträglicher. Und somit wirken Tagträume um einiges effektiver als jeder Beruhigungsversuch mit Schokolade. Hinzu kommt: Mit der Entschlüsselung unserer Tagträume tun wir uns leichter als mit unseren nächtlichen Träumen: „Unsere nächtlichen Träume sind, so meinte Sigmund Freud, der Königsweg zur Enträtselung des Unbewussten. Aber um diesen Weg zu beschreiten, braucht es intensive Entschlüsselungsarbeit und vielleicht auch die Hilfe eines erfahrenen Traumdeuters. Und selbst dann bleibt unsicher, ob man dem Traum seinen wirklichen Sinn entlockt hat. Tagträume dagegen sind uns prinzipiell leichter zugänglich. Wir inszenieren sie im Wachzustand, bei vollem Bewusstsein. Dabei wandern wir zwar nach innen, bleiben aber doch in Verbindung mit der realen Umwelt, gewissermaßen in Rufweite. Wir beeinflussen die Drehbücher der Tagträume aktiv und könnten sie schon deshalb leicht deuten, noch während sie ablaufen“, so Heiko Ernst.
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2 Gedanken zu „Der Tagtraum als Königsweg zum Selbst“
Hi Anja,
Ich liebe deinen Beitrag! Ich träume schon seit meiner Kindheit sehr viel und verbringe auch extrem viel Zeit damit, so viel, dass es für mich manchmal so aussieht, als wäre ich nicht normal (im Vergleich zu meinen Freunden).
Vor 1 Jahr habe ich angefangen Bücher über Persönlichkeitsentwicklung zu lesen und bin auch öfters über das “Im Hier und Jetzt leben” gestoßen. Immer wieder habe ich mich gezwungen, nicht abzuschweifen, wenn ich alleine war, aber je stärker ich es erzwungen habe, desto schlimmer wurden die Phasen bzw. das die Schuldgefühle danach, wenn ich mal tag geträumt habe 🙁
Vor ein paar Wochen habe ich sogar mitbekommen, dass es eine Krankheit gibt, die man maladaptives Tagträumen nennt. (Was hältst du davon?).
Meine Tagträume lähmen mich schon manchmal, wenn ich von der Schule nach Hause komme und lernen will, stattdessen nur da sitze und vor mich hin träume (und ähnliche Szenen).
Aber du gibst mir Mut, das ganze nicht so negativ zu sehen 🙂 Danke dir.
~ Liebe Grüße Sonja
Liebe Anja,
zu träumen ist etwas sehr wichtiges und vor allem auch die Fähigkeit dazu, wie du sie wohl hast. Bitte glaube nicht, dass das so etwas wie eine Krankheit ist. Das Tagträumen ist vielleicht geradeEs sch heute, wo die Menschen pausenlos damit beschäftigt sind, sich irgendwie zu optimieren, besonders wichtig und wertvoll. Die Zeit, die man sich dazu nimmt, scheint nutzlos, ist sie aber nicht. Gerade in diesem Nutzlosen entwickeln wir unsere Fähigkeit zur Fantasie, werden in Gedanken kreativ. Lass dir also nicht einreden, dass dein Verhalten abnorm sei. Ich habe als Jugendlicher und junger Erwachsener sehr viel Zeit mit meinen Tagträumen verbracht. Wichtig ist nur die Grenze zwischen den Tagträumen und der Realität zu kennen. Aber ich glaube nicht, dass dir das Schwierigkeiten bereitet.
Also willkommen im Club der Tagträumer, denn ihnen gehört die Welt und aus Ihren Träumen und Gedanken entstehen irgendwann schöne Werke.
Alles Liebe
Winfried