Wir alle kennen das: Gedanken, die sich im Kreis drehen, Grübeleien und kräftezehrende Alltagssorgen. Die gute Nachricht: Wir tragen einen Freund im Kopf, der uns bereits sehr lange begleitet und das negative Gedankenkarussell stoppen kann. Jetzt ist der Moment gekommen, ihn bewusst kennenzulernen.
“Ich denke, also bin ich“, definierte der französische Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert die Grundlage seiner Existenz. Seither hat das denkende Ich die zentrale Rolle für unsere Identität eingenommen, sodass im 20. Jahrhundert der thailändische Meditationsmeister Ajahn Buddhasa die moderne Welt als „verloren im Denken“ bezeichnete. Vor 2.500 Jahren soll Buddha einmal gesagt haben: „Wer ist dein Feind? Der Verstand ist dein Feind. Niemand kann dir mehr Schaden zufügen als ein untrainierter Geist. Wer ist dein Freund? Der Verstand ist dein Freund. Niemand kann dir mehr helfen als dein eigener Geist, der weise gebildet ist.“ Ganz in diesem Sinne erinnert uns der Autor und Psychotherapeut Matthias Hammer daran, dass wir stets die Wahl haben, unseren Freund oder unseren Feind im Kopf zu nähren.
Das Gewahrsein geht über das Denken hinaus
„Die meisten Menschen verwechseln ihr denkendes, kritisches Ich mit ihrem bewussten Erwachsenen-Ich“, schreibt Hammer. „Sie sind vollständig identifiziert mit dieser denkenden, bewertenden, kritischen Stimme in ihrem Kopf. Bei vielen hat dieser sogenannte innere Kritiker komplett die Führung übernommen – und er verhält sich oft feindlich.“ Gewahrsein dagegen ist nicht gleichbedeutend mit Denken, betont der Medizin-Professor Jon Kabat-Zinn, „sondern geht über das Denken hinaus, obgleich es das Denken nutzt, und seinen Wert und seine Macht anerkennt. Gewahrsein gleicht eher einem Gefäß, das unser Denken hält und umfasst, und das uns helfen kann, unsere Gedanken zu sehen und sie als Gedanken zu erkennen, statt sie für Realität zu halten.“
Bewusst sein oder verloren im Denken
Warum sollten wir uns mit so abstrakt philosophischen Fragen beschäftigen, fragen Sie jetzt vielleicht? Schauen wir uns doch einmal an, welchen konkretennterschied es macht, ob wir auf Freund oder Feind in unserem Kopf hören, und begleiten zwei idealtypische Beispiele durch ihren morgendlichen Alltag. Nennen wir sie Antonia und Birgit.
Kaum holt der Wecker Antonia aus ihren Träumen, taucht sie in den Gedankenstrom ein: „Dienstag? Steht die Mülltonne schon draußen? Wenigstens regnet es nicht! Was habe ich gerade geträumt? Jetzt ist es weg. Ich sollte mir meine Träume besser merken! Wie gern würde ich noch liegen bleiben! Bloß nicht vergessen, …“ Während ein Gedanke den anderen jagt, putzt sie sich im Autopilot-Modus die Zähne, duscht, bereitet das Frühstück für die Kinder vor und checkt nebenbei die neusten Handy-Nachrichten.
Dagegen Birgit: Beim Klingelton des Weckers streckt sie im Halbschlaf genüsslich den Körper, bleibt wach im Bett liegen und lässt sich eine Viertelstunde einfach in Ruhe. Sie lässt einfach ihre Gedanken auftauchen und an sich vorüberziehen. Sie putzt die Zähne und spürt beim Duschen das warme Wasser auf ihrer Haut. Der Duft frischer Brötchen steigt ihr in die Nase, während sie das Frühstück für ihre Kinder vorbereitet. Dann setzt sie sich an den Küchentisch und konzentriert sich auf ihre To-Do-Liste für den Tag. Anotonia ist sich ihrer Gedanken nicht bewusst. Sie identifiziert sich ganz und gar mit ihrem denkenden Geist. Über ihre Denkgewohnheiten macht sie sich selten Gedanken. Birgit dagegen pendelt zwischen unbewusstem Denken und lebendigem Sinneskontakt hin und her.
Den inneren Kritiker zähmen
Auf dem Weg zur Arbeit steht Antonia im Stau. Die Schultern angespannt und die Hände ans Lenkrad geklammert, gerät sie allmählich in Panik. Zu den sorgenvollen Gedanken über die unvermeidliche Verspätung gesellt sich der strenge Vorwurf, nicht früher losgefahren zu sein, „Immer kommst du zu spät, kein Wunder, dass die Kollegin befördert wurde und du nicht.“ In Antonias Kopf reiht sich eine verpasste Gelegenheit an die andere, wie Perlen an einer Schnur. „Mit dieser Arbeitsdisziplin wirst du es nie zu etwas bringen!“, schimpft eine gnadenlose Stimme, der sie unbesehen glaubt. „Dieser Kritiker sitzt dick und breit im Stuhl des Erwachsenen-Ichs und bewertet unbemerkt uns selbst und die Welt“, beschreibt Hammer den Feind im Kopf. „Unser Geist aber lässt sich zum Glück nicht auf diese plappernde bewertende Stimme reduzieren, er ist viel größer, klarer, freundlicher und mitfühlender als unser Denker-Ich.“ Doch solange wir uns wie Antonia dieser inneren Antreiber nicht bewusst sind, halten wir sie für die Stimme der Vernunft und stellen sie nicht in Frage. Vor lauter Selbstvorwürfe hätte Antonia beinahe vergessen, in der Arbeit Bescheid zu geben.
Birgit befindet sich im gleichen Stau, ein paar Meter dahinter. Auch sie hat ein wichtiges Meeting, zu dem sie wahrscheinlich zu spät kommen wird. Sobald sie ihre angespannte Schultermuskulatur bemerkt, lässt sie locker. Kurz telefoniert sie mit der Kollegin. An den schwitzenden Fingern erkennt sie, dass sie nervös ist. Angstbesetzte Gedanken tauchen auf, doch sie lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Da bist du ja wieder, liebe Sorgentante“, begrüßt sie die vertraute Stimme im Kopf, die meist von einem Druck in der Magengegend begleitet wird. Birgit öffnet das Fenster, spürt den sanften Luftzug auf der Haut und betrachtet die sattgrüne Landschaft im Morgenlicht.
Die Gabe der Gegenwärtigkeit
Wir alle haben die Fähigkeit, nicht nur zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen und denken, sondern diese Prozesse auch zu bemerken. Doch wie ein Muskel verkümmert, wenn er nicht bewegt wird, verlieren wir die Gabe der Gegenwärtigkeit, wenn wir von diesem Perspektivwechsel keinen Gebrauch machen. „Wenn wir es seit Jahrzehnten gewohnt sind, all unseren Gedanken Glauben zu schenken, ist es ein Lernprozess, immer wieder auf Abstand und nicht mehr jedem Gedanken auf den Leim zu gehen“, mahnt Hammer zur Geduld. „Sie können Ihren Verstand als einen großartigen, fantasievollen Geschichtenerzähler betrachten. Er macht das so geschickt, dass Sie meistens gar nicht bemerken, was er tut. Sie halten sein Geplapper für absolut und richtig.“ Denn es macht einen Unterschied, ob wir uns als Versagerin beschimpfen, oder bemerken, dass wir uns gerade für eine Versagerin halten.
Veronika Schantz
Zum Weiterlesen: Matthias Hammer, Der Freund in meinem Kopf, GU Verlag, 19,99 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2024
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