Das ICH im WIR

Der Bestsellerautor Veit Lindau erklärt, wie wir Beziehungen auf eine neue, höhere Ebene heben und gemeinsam Großes erschaffen können. Sein Konzept „Co-Creation“ ist eine Liebeserklärung an die transformative Kraft wahrhaftiger Beziehungen

Das menschliche Gehirn verfügt über die beträchtliche Zahl von etwa 100 Milliarden Nervenzellen. Doch jede einzelne ist für sich genommen relativ dumm. Das kreative Genie unseres Gehirns entsteht erst durch die effektive Vernetzung der Neuronen untereinander. Deshalb glaube ich an uns Menschen. Nicht wegen dem, was wir bis heute erreicht haben, sondern weil ich davon ausgehe, dass wir unsere einzigartigen Gaben bis jetzt nur sehr rudimentär vernetzt haben. Was ist möglich, wenn sich Millionen smarter, mitfühlender Geister auf einer Ebene begegnen und sich so sinnbildlich in einem großen, kollektiven Gehirn verbinden, das nur ein Ziel hat: zum Wohle aller Wesen und der gesamten Biosphäre zu erschaffen. Nenn mich einen Träumer, doch für mich ist diese Möglichkeit real und deshalb setze ich mich mit allem, was ich habe und bin, dafür ein.

Unser Universum ist reinste Co-Creation

Was hat das mit Co-Creation zu tun? Die Wurzel aller Beziehungsprobleme der Menschheit ist die Erfahrung der Trennung. Aus Trennung entstehen Angst und Mangel und daraus wiederum Kampf. Weil wir uns getrennt voneinander fühlen, stellen wir unsere Interessen über die eines anderen Menschen, einer Bevölkerungsgruppe oder des gesamten Planeten. Weil wir uns getrennt fühlen, müssen wir Recht haben, uns über andere erheben oder sie ausbeuten. Doch der große Witz ist, dass wir niemals wirklich voneinander getrennt waren und auch niemals sein können.

Alles ist miteinander verbunden

Ich bin mir bewusst, dass ich dir möglicherweise gerade einen ungewöhnlichen Gedankengang zumute. Du musst dies nicht glauben, damit Co-Creation praktisch für dich funktioniert. Doch diese Perspektive kann dir einen Blick hinter die Kulissen deiner Beziehungen ermöglichen. Das wiederum kann es dir gestatten, dich noch tiefer auf den gemeinsamen Prozess einzulassen. Du kannst dich dem auch spielerisch nähern und dir einfach bei deinem nächsten Gespräch vorstellen, dass es der Kosmos höchstpersönlich ist, der durch zwei verschiedene Körper mit sich selbst spricht. Was ist sein Ziel? Nun, ich vermute: Er will sich selbst erkennen und in der Begegnung neue Möglichkeiten erschaffen. Wenn alles miteinander verbunden ist, kann es im Endeffekt nicht darum gehen, dass eine Partei über die andere Partei siegt. Kampf blockiert Co-Creation. Sie kann ihre schöpferische Power erst freisetzen,

Wenn wir unsere einzigartige Individualität feiern und gleichzeitig das größere Wir erkennen. Wenn wir die Illusion der Trennung auflösen, sehen und fühlen wir, dass wir Part einer gewaltigen, co-creativen Sinfonie des Kosmos sind. Wir beginnen, die Melodie herauszuhören. Im Rhythmus der Jahreszeiten, im Wechselspiel von Sonne und Mond, in unserem Herzschlag oder im Flow eines Arbeitsmeetings. Wenn wir bereit sind, unsere menschlichen Vorstellungen von richtig und falsch zu entspannen, erkennen wir selbst im größten Chaos verborgene Muster einer höheren Ordnung. Alles co-creiert miteinander: Die Blüte mit der Biene. Der Apfelkern mit der Erde. Dein Ausatmen mit dem Einatmen der Bäume.

Die Individualität feiern und gleichzeitig das größere Wir erkennen

Gehst du mit diesem staunenden Blick durch die Welt, siehst du Co-Creation überall. Nur einer scheint herauszufallen: der Mensch. Ich schreibe bewusst, er „scheint herauszufallen“, denn ich bin überzeugt, dass auch unser Ringen und Versagen keine Fehler sind. Unser Ego macht uns besonders. Es ist die Wurzel von Trennung und der daraus resultierenden Angst und Gier. Es hat uns aus dem Paradies der unbewussten Co-Creation vertrieben. Noch irren wir umher. Noch verletzen wir uns selbst und andere aus Ignoranz. Doch ist dies ein Fehler der Schöpfung oder ein Schachzug, den wir nur noch nicht verstehen? Werden wir weiter gegen die große Sinfonie kämpfen, bis das Experiment dieser nervenden Spezies für beendet erklärt wird? Oder werden wir nun mit den auf unseren Egotrips errungenen Gaben und Erkenntnissen demütig, neugierig und bewusst in das Gesamtspiel der Co-Creation zurückkehren? Ich vermute, die Antwort fällt in dir und mir.

Wollen wir als Spezies nicht nur überleben, sondern glücklich sein und uns sinnvoll weiterentwickeln, brauchen wir eine neue Beziehungsform. Wir müssen schneller, freudvoller und verbundener miteinander lernen. Jetzt ist also die Zeit, in der wir uns co-creativ zusammenschließen müssen. Co-Creation ist die Beziehungsform, die wir brauchen, um die Menschheit wohl und sicher in die Zukunft zu führen. Alles in deinem Leben basiert auf Beziehung. Alles, was du dir wünschst, braucht Beziehung. Jede deiner Beziehungen kann deine Entwicklung einschläfern, hemmen oder fördern.

Co-Creation ist eine besondere Art, sich auf andere Wesen zu beziehen. Deshalb lass uns erforschen, welches Verhältnis du zu deinen Beziehungen hast. Dafür bitte ich dich, über die folgenden drei Fragen nachzudenken.

Frage 1: Bist du eher ein auf Beziehungen oder ein auf Aufgaben fokussierter Mensch?
Aufgabenorientierte Menschen sehen ihre Beziehungen eher als Mittel zum Zweck, um bestimmte Ziele zu erreichen, sei es privat oder beruflich. Die Qualität ihrer Beziehungen ist ihnen nicht so wichtig wie ihre Wirksamkeit innerhalb ihrer Beziehungen. Sie fragen sich bewusst oder unbewusst: Dient diese Partnerschaft meinem Anliegen? Komme ich so besser ans Ziel?
Beziehungsorientierte Menschen betrachten Aufgaben und Ziele eher als eine wunderbare Gelegenheit, mit anderen zusammen zu sein und eine gute Zeit zu haben. Sie fragen sich eher: Mit wem bin ich gern zusammen? Mit wem fühle ich mich sicher und macht es mir Freude?
Natürlich gibt es hier kein striktes Schwarz oder Weiß. Doch meiner Erfahrung nach haben wir alle einen Schwerpunkt der Orientierung. Viele Männer investieren, ohne groß darüber nachzudenken, viel Zeit und Energie in Karriere oder Sport. Doch wenn ihre PartnerInnen sie dazu einladen, die Beziehung intensiver zu pflegen, verstehen sie häufig erst einmal nicht, warum. Bis heute sind es meistens Frauen, die ihre Männer sanft oder vehement zu der Teilnahme an einem unserer Beziehungsseminare überreden. Darin liegt keine Wertung. Wir alle sind unterschiedlich gewichtet und alles hat seine Berechtigung. Wie schätzt du dich ein?

Auszug aus: Veit Lindau, Co-Creation – Wie Menschen zusammen Großes erschaffen, Gräfe und Unzer Verlag, 24 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2023

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