Besser streiten – oder lieber nicht?

Konflikte und Auseinandersetzungen sind wie unermüdliche Nager, die uns das Leben schwer machen. Sollten wir deshalb lieber erst gar nicht damit anfangen? Wir geben Tipps für eine konstruktive Streitkultur.

In meiner Wohnung hockt ein Gespenst. Es ist ein Familienkonflikt. Vor Wochen ist es eingezogen, seitdem hält es mich nachts wach. Ich bin erschöpft, frustriert, ausgelaugt, will es mit lautem Geschrei vertreiben, doch ich traue mich nicht. Denn ich kann nicht streiten. Und ich denke: So wie mir geht es vielen Menschen. Wir leben mit lauter Gespenstern zusammen: Ehekrisen, Kränkungen am Arbeitsplatz, Spaltungen in der Familie. Sie vermehren sich lautlos, folgen uns durch den Alltag und sitzen abends sogar mit am Esstisch. Ohne was zu sagen.
Unsere Welt ist voller Konflikte.Pandemie, Klimakrise, Inflation und der Krieg spalten die Gesellschaft. Doch diese Konflikte werden nicht mehr am Esstisch ausgefochten. Man nimmt sie mit aufs eigene Zimmer, in die eigene Echoblase, zu Gleichgesinnten in den sozialen Medien, Lesekreisen und politischen Vereinigungen. Dort, wo wir Zuspruch bekommen, wo unser Gesagtes mit Sicherheit Applaus erntet. Um unsere Meinung zu teilen, suchen wir uns von hunderten, tausenden Menschen, die paar aus, die so denken wie wir.

Konflikte können krank machen

Es ist 2023, die Welt ist still geworden. Wir sind acht Milliarden, doch anstatt miteinander zu sprechen, anstatt zu diskutieren, Standpunkte zu verändern, zu kommunizieren, sprechen wir nur noch zu uns selbst. Driften auseinander, werden radikaler. Familien zerbrechen, Freundeskreise, Vereine. Wie finden wir wieder zueinander?
„Es sind weder die Inflation noch die Klimakrise, der Krieg oder Covid-19, die Konflikte fördern, sondern es ist unser Umgang damit“, sagt der Experte für Rhetorik und Kommunikation Thomas Albrecht, der als Brückenbauer zwischen Menschen besseres streiten fördern und eine neue Streitkultur etablieren will. Denn: „Konflikte können krank machen.“ Die psychischen Folgen von Konflikten – seien es Auseinandersetzungen zwischen Partnern oder Geschwistern oder ein Bruch im Freundeskreis – sind vielfältig. Konflikte versetzen uns in eine Art dauerhafte Alarmbereitschaft, unser Körper steht unter Stress, Ängste und Sorgen rauben uns den Schlaf. Das kann im schlimmsten Fall sogar unser Immunsystem schwächen oder das Risiko für Bluthochdruck, Herzerkrankungen oder Schlaganfälle erhöhen.

Die Macht des Streitens

Sollten wir deshalb lieber ganz aufhören zu streiten? Anschuldigungen und Beleidigungen runterschlucken, zum Erhalt einer guten Stimmung lieber schweigen? Ganz im Sinne: „Denk doch mal an Omas Herz?“ Vor allem Frauen haben oft das Gefühl, zu Hause die Harmonie aufrechterhalten zu müssen. Eine harmonische Familie streitet eben nicht! Wir haben Angst, als hysterisch oder als Furie zu gelten, wenn wir unsere Stimme erheben. Also erheben wir sie nicht. Dulden Kränkungen, nehmen willig die Schuld auf uns, die man uns zuschiebt. Und wenn sich ein Streit aufbaut, sind oft wir diejenigen, die die Wogen glätten und die Fronten aufweichen. Doch auch wenn das Abendessen dadurch ruhiger verläuft: Unter der schneeweißen Tischdecke lauern noch immer dieselben Konflikte. Niemand schreit, keine Türen werden geknallt. Doch in der vermeintlichen Harmonie schwelen die Konflikte weiter. Sie mögen es, totgeschwiegen und ignoriert zu werden. Und wie vor einem Sommergewitter ist die Luft mit Spannung geladen, die sich aufbaut und aufbaut und keinen Weg findet, sich zu entladen. Es ist aber diese Spannung, die uns krank macht.

Wenn Verborgenes an die Oberfläche kommt

Dann doch lieber streiten? Mal alles rauslassen, schreien, stampfen, Geschirr kaputt schlagen und Dinge sagen, die wir später bereuen werden? „Jein“, sagt Thomas Albrecht dazu. Ein Streit hat die Macht, Verborgenes an die Oberfläche kommen zu lassen. Er zwingt die Beteiligten zu einer Konfrontation mit dem Konflikt, lässt ihn sichtbar werden, wo er zuvor im Verborgenen vor sich hin geschwelt hat. Streiten gibt Emotionen Raum. Wut, Kränkung, Scham, Enttäuschung, all die Gefühle, die wir zuvor in uns hineingefressen haben, dürfen endlich zu Wort kommen. Die Spannung, die sich über Tage, Wochen und Monate aufgebaut hat, kann sich endlich in einem heftigen Gewitter entladen.
Mariele Diehl

Zum Weiterlesen:
Thomas Wilhelm Albrecht, Besser streiten, Wie du dich bei Konflikten ruhig und sachlich durchsetzt, Goldegg Verlag, 22 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 4/2023

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