Anna und Ben, sind seit zwei Jahren ein Paar und hängen vor dem Fernseher ab. Anna wirkt die ganze Zeit angespannt, dann plötzlich platzt es aus ihr heraus: „Hey Schatz, deine neue Frisur gefällt mir gar nicht!“ – „Äh, ja … so schlimm?“ – „Ja, sie passt überhaupt nicht zu dir!“ Ben fühlt sich gekränkt. Er wollte eigentlich nur so cool aussehen wie seine Freunde. Der gemütliche Abend ist gelaufen.
Bevor es aus Anna „herausbrach“, steckte sie in einem Dilemma: Sollte sie ihre Meinung sagen, obwohl das Ben kränken würde? Oder sollte sie so tun, als fände sie seine neue Frisur super, nur um Stress zu vermeiden? Diesen ambivalenten Zustand kennen viele von uns aus ihren Beziehungen. Oft müssen wir entscheiden: authentisch sein und riskieren, dass es kracht, oder uns super vorsichtig verhalten. Hier die knallharte Ehrlichkeit, die direkt aus dem Herzen kommt, dort die diplomatische Vorsicht, die versucht Ärger und Verletzungen zu vermeiden. Während unverstellte Direktheit oft als „authentisch sein“ gefeiert wird, landet diplomatische Vorsicht schnell in der Schublade „Opportunismus“.
Authentisch sein: Gar nicht so einfach!
„Authentisch sein“ oder „echt sein“ wird gern als Nonplusultra der Persönlichkeitsentwicklung gepriesen. Doch in Reinkultur kann es für den Partner sehr nervenaufreibend sein, wenn Bedürfnisse und Gefühle rücksichtslos ausgelebt werden. Doch als Beziehungscoach definiere ich Authentizität anders.
Wer sich bei der Suche nach seinem wahren Selbst nur auf eine einzige Eigenschaft versteift, zum Beispiel auf seine “Unabhängigkeit”, der wird in einer Beziehung kaum glücklich werden. Seine Erfüllung liegt im Stolz auf sein freies und unabhängiges Leben.
Sich selbst kennen
Eine Voraussetzung für ein authentisches Leben ist es im besten Falle, all seine Bedürfnisse zu kennen. Auch Kontakt zu seinen Gefühlen zu haben, sich seiner Werte und Wünsche bewusst zu sein. Auch seine Meinungen zu kennen. Um „sich selbst echt“ leben zu können, muss man sich seiner inneren „Befindlichkeiten“ bewusst sein.
Das ungeliebte Gegenstück zur eigennützigen Authentizität ist die ängstliche Anpassung. Statt dem Partner unsere Meinung zu sagen, halten wir lieber den Mund. Anstatt unsere Verletzungen zu zeigen, ziehen wir uns zurück und hoffen, dass alles irgendwann besser wird. Wer sich über Jahre hinweg – um des lieben Friedens willen – immer wieder auf diese Weise klein macht, der verliert den Kontakt zu seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Wie aber leben wir die Werte Freundschaft, Familie oder gegenseitige Unterstützung authentisch?
Gratwanderung
Authentisch sein in einer Beziehung bedeutet, sowohl seine inneren Werte, Bedürfnisse und Gefühle zu kennen, als auch die Wünsche und Gefühle des Partners zu achten und einzubeziehen. Es geht darum, sich stimmig in eine Situation einzubringen. So betrachtet bedeutet es für eine Beziehung: weder eindimensional eigennützig handeln, noch sich konfliktscheu dem Partner anpassen, sondern immer wieder stimmig handeln. Es ist eine Gratwanderung. Diese Stimmigkeit zwischen Eigeninteresse und Selbstlosigkeit zu finden, erfordert Einfühlungsvermögen und Flexibilität. Und sie muss oft erneuert werden, denn unser Leben hat zu viele Facetten und Entwicklungspotential, um ihm mit fertigen Lösungen zu begegnen. Konkret heißt das:
Klar kommunizieren: Sprich offen und ehrlich über deine Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken.
Empathisch sein: Versetze dich in deinen Partner hinein und lerne seine Bedürfnisse und Gefühle kennen.
Kompromisse finden: Gewichte deine Werte und Bedürfnisse je nach Situation neu und flexibel, um für alle Seiten stimmige Kompromisse zu finden.
Tägliche Balance
Authentisch sein in einer Beziehung ist kein Zustand, den man irgendwann als Individualist erreicht, sondern ein täglicher Balanceakt. Wenn beide Partner ihre Werte und Bedürfnisse immer wieder neu ausloten und weiterentwickeln und aufeinander eingehen, entsteht erfülltes Beziehungsleben – weil es für beide stimmig ist.
In einer Beziehung authentisch zu sein ist nicht immer einfach, aber es ist möglich. Mit etwas Übung und Selbstreflexion können wir aber lernen, uns selbstbewusst und ehrlich zu zeigen, ohne uns zu verbiegen. Je selbstbewusster wir werden, desto weniger „Bestätigung“ brauchen wir vom Partner. Je weniger wir von ihm brauchen, desto mehr können wir auf seine Bedürfnisse eingehen. Stimmigkeit – authentisch sein – entsteht durch Beidseitigkeit.
Als Blogger und erfahrener Beziehungscoach schreibt Ekke Scholz darüber, wie du deine Beziehung auf eine stabile und erfüllende Basis stellen und die Herausforderungen meistern kannst. www.ekke-scholz.de