Komme ich wirklich im Alltag auf meine Kosten? Oder kommen alle anderen vorher dran? Warum es gesund ist, den eigenen Weg zu gehen und sich selbst mehr zu erlauben.
Wer es jedem recht macht, der bleibt leicht selbst auf der Strecke. Das ist eine Falle, in die wir selbst allzu leicht leicht tappen. Aber warum nur? Anderen Menschen ihre Wünsche zu erfüllen, das steckt tief in der Programmierung unseres Gehirns. Die meisten von uns haben das wohl in ihrer Kindheit gelernt. Als wir noch klein und hilfsbedürftig waren, bedeutete das, dass wir allen anderen möglichst gefallen wollten. Später dann steck-en diese Muster wie breitgetretene Trampelpfade in unserem Gehirn fest – und werden zur scheinbaren Passepartout-Lösungen.
Ziehen Sie eigene Grenzen
Unsere auch heute noch üblichen Verhaltensweisen, hängen also davon ab, was in unserer Kindheit erwünscht war. Fragen Sie sich doch mal: Gebe ich mich stets besonders fröhlich und charmant, auch wenn mir ganz anders zumute ist? Gehe ich strikt unabhängig durchs Leben, obwohl sich ein Teil von mir auch gerne einmal anlehnen würde? Bin ich immerzu auf „On“, auch dann, wenn ich mich eigentlich erschöpft fühle und Ruhe bräuchte?
„Ziehen Sie dort eine Grenze, wo zu lange Geduld zum Verrat an Ihnen selbst wird“, mahnt die Systemische Beraterin und Trainerin Renate Daimler in ihrem „Buch der Erlaubnis“. Denn dieser Verrat führt zum Raubbau an der eigenen körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheit. Wir sollten aber wissen, dass wir das ändern können. Wenn wir eine klare Intention entwickeln, kann unser Gehirn nämlich neue, passendere Verhaltensweisen speichern. Mit ein bisschen Übung werden diese dann immer leichter abrufbar.
Aber wie finden wir heraus, ob wir authentisch oder doch eher nach den Regeln anderer leben? „Manchmal habe ich mich so verbogen, dass es mir ging wie der Frau in dem Film, die nicht wusste, wie sie ihr Frühstücksei mochte, weil sie es immer nur wie ihr jeweiliger Partner aß“, erzählt Renate Daimler von sich. Sie empfiehlt deshalb, seinen eigenen Alltag eine Weile lang zu beobachten und sich Notizen zu machen: über wiederkehrende Muster, über das, was Freude macht und das, was nervt. Immer mal wieder sollten wir uns auch an unsere Kindheitsträume erinnern – und uns erlauben, sie wieder zu träumen.
Sagen Sie öfter mal NEIN
Doch ausgediente Muster lässt man nicht von heute auf morgen los. „Haben Sie Geduld“, rät auch Renate Daimler. „Sie werden einen wunderschönen Garten in sich anlegen und sicher nicht sofort eine Pflanze vernachlässigen und ausreißen, nur weil sie nicht so schnell wächst, wie Sie es sich vorstellen.“ Wer sich anschickt, das Korsett der äußeren und inneren Gebote und Verbote abzulegen, kann nicht gleich mit Applaus von allen Seiten rechnen. Die Frage: „Was werden mein Mann, meine Nachbarn, meine Eltern, meine Kinder dazu sagen?“, ist durchaus berechtigt. Aus Sorge um uns, aber auch um ihre eigene Bequemlichkeit, werden sie uns so manches Stoppschild vor die Nase halten. Die Reaktionen reichen dann von „Muss das denn sein?“ bis zu „Du bist doch total übergeschnappt!“ Wichtig sind dann Verbündete, die uns anfeuern, uns immer wieder Mut machen und uns daran erinnern, dass wir richtig sind – genauso wie wir sind.
Auch der Vorwurf des Egoismus ist oft nicht fern, wenn wir anfangen, unsere eigenen Bedürfnisse vor die anderer Menschen stellen. Egoistisch wollen wir natürlich nicht wirken, gilt Selbstlosigkeit doch als Tugend. „Erlauben Sie nicht, dass Sie Ihr eigenes Selbst loswerden,“ schreibt Renate Daimler. Erlauben Sie sich stattdessen, für sich selbst geradezustehen und sich auch einmal für das Unpopuläre zu entscheiden. Sie brauchen nicht die Erlaubnis der anderen, nur Ihre eigene. Wir haben nämlich eine Fürsorgepflicht für uns selbst. Erst wenn wir uns selbst lieben, können wir auch andere wirklich lieben und auch Verantwortung für sie übernehmen – das gilt auch für pflegebedürftige Eltern oder kranke Geschwister.
Gönnen Sie sich also die Ruhe, die Sie brauchen. Sagen Sie „Nein“, wenn Sie es meinen. Das wird sich zunächst ungewohnt anfühlen. Dann aber immer besser.
Neuverhandeln in der Partnerschaft
Wenn wir uns verändern wollen, kostet uns oft die Auseinandersetzung mit dem Partner am meisten Mut und Kraft. Wie also in einer Partnerschaft die Grenzen ausdehnen, ohne für größere Erschütterungen zu sorgen? „Verzichten Sie nicht auf Ihre Grundbedürfnisse, weil Sie Angst haben, dass das die Beziehung nicht verkraftet“, rät Renate Daimler. „Auch ein Verrat der eigenen Lebenswünsche kann die Beziehung zerstören, weil wir unserem Partner oder der Partnerin den Verzicht heimlich vorwerfen.“ Es ist also für das Gedeihen einer Partnerschaft gesünder, wenn wir zu unseren ureigensten Bedürfnissen stehen und für sie kämpfen. Es ist letztlich immer unsere eigene Verantwortung, was wir tun und was nicht. „Leben Sie die Gemeinsamkeiten, und lassen Sie zu, dass Sie dort, wo Sie unterschiedlich sind, auch eigenständige Wege gehen. Das ist gesünder als ein fauler Kompromiss“, rät Daimler.
Ergibt sich dadurch Reibung, ist das bestenfalls ein Hinweis auf erlernte Muster in der Partnerschaft, die es dann eben anzupassen gilt. Wer das als „Entwicklungshilfe“ begreift, kann gemeinsam tiefgreifende Heilung und Wachstum erfahren.
Hineinwachsen in ein authentisches Sein
Wenn wir frei für das Neue sein wollen, dann sollten wir den Groll und die Verletzungen der Vergangenheit loslassen. Dazu gehört, anderen und auch uns selbst zu verzeihen und wertzuschätzen. Denn unsere Glaubenssätze haben uns in gewisser Weise auch stark gemacht. Sie haben uns in einem bestimmten Lebensabschnitt beispielsweise besonders empathisch oder erfolgreich werden lassen. Nun geht es darum, die passende Dosis für sie zu finden. Sie spielerisch und flexibel abrufen zu können und durch weitere Verhaltensmöglichkeiten ergänzen zu können, bedeutet, bewusst wählen zu können.
Aus Liebe zu mir
Erlauben Sie sich also hin und wieder den Satz: „Das mache ich, weil es mich freut.“ Gönnen Sie sich so oft Sie können, wahrhaftig authentische Augenblicke. Und seien Sie sich selbst dankbar – dafür, dass Sie aus Liebe zu sich selbst handeln.
Unsere typischen Glaubensmuster – Woher sie kommen und wie sie wirken |
Die Prägungen unserer Kindheit hallen oft ein Leben lang nach. Hier eine Übersicht über die gängigsten Muster:1. „Ich brauche niemanden, ich komme allein zurecht“ • Lebensthema: Versorgung • Freiheitsliebend und selbstbestimmt. Ein Arbeitstier. Kann nur schwer vertrauen. • Entsteht durch mangelnde Versorgung durch die Eltern. • Was man sich so leicht erlauben kann: Unabhängigkeit, Engagement. • Was schwer fällt: Um Hilfe bitten, im Team arbeiten, sich tief auf jemanden einlassen. 2. „Ich muss ganz viel tun, damit ich gesehen werde“ 3. „So wie ich bin, bin ich falsch“ 4. „Ich will mich nicht unterordnen, ich muss die Nummer eins sein“ 5. „Niemand ist für mich da“ 6. „Die Welt ist ein bedrohlicher Ort“ 7. „Ich werde nur geliebt, wenn ich viel leiste“ Deborah Weinbuch |
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 6/2017
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