Jede Lebenskrise trägt ein Potenzial für unsere Weiterentwicklung in sich. Leoni Nägele zeigt, wie wir am besten durch schwere Zeiten kommen und warum sie uns sogar stärken.
Krisen sind Teil eines jeden Menschenlebens und deshalb unvermeidlich. Doch in jeder Krise fragen wir uns, wie wir nur jemals in eine solche Situation kommen konnten und noch viel drängender, wie kommen wir da wieder raus? Dann kann das ganze Kartenhaus sprichwörtlich ins sich zusammenfallen und vieles von dem in Frage stellen, was bisher selbstverständlich erschien. Da ist dann nur Verzweiflung und Dunkelheit. Dabei schämen wir uns vielleicht insgeheim dafür, wenn uns jegliche Kontrolle entweicht und wir den Boden unter den Füßen verlieren. Vielleicht empfinden wir uns als schwach, sobald wir an die Grenzen unserer Kräfte gelangen und Hilfe benötigen. Aus eigener Erfahrung kennt das auch der ehemalige Klinikseelsorger, Referent in der Erwachsenenbildung und heutige Buchautor Josef Epp. Als junger Familienvater verlor er ganz plötzlich von heute auf morgen seine Frau durch eine schwere Herzerkrankung und blieb allein mit drei Kindern zurück. Dann folgte der Tod seiner ältesten Tochter mit nur 26 Jahren, was ihn abermals in eine tiefe Lebenskrise stürzte und ihn schier verzweifeln ließ. In seinem Buch „Wenn alles anders kommt“ schreibt er: „Die Verletzlichkeit und Grausamkeit des Lebens war unmittelbar und real geworden, so viele nach außen gerichtete Dinge verloren an Bedeutung.“
In dieser schweren Zeit haben ihm dann seine Familie und ein neuer Zugang zum Glauben Kraft gegeben. Er berichtet von der Erfahrung einer geheimnisvollen Nähe und tröstenden Kraft, gerade an dunklen Tagen, wo es für ihn nicht mehr weiterzugehen schien. „Leise und behutsam durfte ich eine Gegenwart spüren, die ich mit dem verbinde, was wir so schnell Gott nennen. Mein Sprechen von Gott ist aber vorsichtiger und sensibler geworden, vielleicht auch ehrfürchtiger.“
Jede Krise ist ganz individuell
Aus diesen Erfahrungen erwuchs in ihm allmählich die Bereitschaft, nicht nur zurückzublicken und sich auf den Schmerz zu fokussieren, sondern immer wieder im Augenblick zu leben und das Gute im Leben zu suchen. Heute weiß er, dass Krisen sogar gut für die seelische Entwicklung sein können. „Gerade bittere Erfahrungen führen zu wichtigen Erkenntnissen und veränderten Sichtweisen. Im Mosaik der eigenen Lebensgeschichte wurden sie für mich Bestandteile mit großer Intensität. Es ist viel Dunkel, das mir auf dem Weg begegnet ist. Aber ich bin dankbar für das Licht, das nicht unterzukriegen war.“
Ob der Verlust eines geliebten Menschen die Diagnose einer schweren Krankheit, das Wegbrechen einer sicher geglaubten Lebenssituation oder die Dunkelheit einer Depression. Keine Krise gleicht einer anderen. „Gewiss, Krisen ähneln sich in vielen Fällen. Aber keine Schematisierung ist wirklich situationsgerecht. Die Wege ähneln sich möglicherweise, doch sie sind nie gleich“, so Josef Epp.
Durch die Wüste zurück zu unserer Seele
Der Weg durch eine Krise kann endlos und schmerzhaft sein. Wie beim Wandern durch Wüstenlandschaften, fehlt uns oft die Orientierung. Wir wissen nicht mehr weiter, haben keine Anhaltspunkte. Keine Spuren im Sand sind zu sehen. Wir erleben etwas komplett Unbekanntes, zu dem wir noch keine Erfahrung haben – und deshalb auch keine erlernte Reaktion. Uns fehlt jede Routine. Das löst Angst und große Unsicherheit aus. So werden wir aufgefordert, unsere eigenen Schritte in den Sand zu setzen. Selbst Wegmarken aufzubauen. Die Landkarte neu zu erschaffen und die Reise zurück zu uns selbst anzutreten. Denn hier findet das Wunder einer tiefen Begegnung mit uns selbst statt. In den hohen Dünen des Leidens werden wir mit uns selbst konfrontiert und dürfen uns auf ganz neuer Art erfahren. „In der Wüste unserer Krise, in ihrer Stille und Andersartigkeit, können wir viel weniger als im sonstigen Alltag vor uns selbst davonlaufen. Wir nehmen uns anders, sensibler, unmittelbarer wahr. Wir können beginnen, über uns selbst, unser Selbstbild und die Fundamente unserer Person verändert nachzudenken“, schreibt Epp. Jede Veränderung stärkt damit unsere Weisheit und unser Selbstvertrauen. Eine Krise bietet die Chance, herauszufinden, welche Kräfte und Fähigkeiten in uns stecken und was wirklich wichtig ist im Leben.
Krisen sind meist Vorboten einer neuen Lebensphase
Hinter all dem Leid, das eine Krise hervorbringen kann, verbirgt sich nicht selten ein tiefer Sinn und die Möglichkeit, uns selbst auf neue Weise kennenzulernen. „In Wüstenetappen unseres Lebens begegnen wir auf veränderte Weise uns selbst. Das ist wahrhaft kein Spaziergang. Die Chance, uns im Innersten zu kräftigen und vertrauend und liebend zu orientieren, kann heilsame Wege eröffnen“, so Josef Epp.
Zum Weiterlesen: Josef Epp, Wenn alles anders kommt, Patmos Verlag, 19 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 2/2023
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