Warum es bereichernd ist, von gewohnten Pfaden einmal abzuweichen und was alles möglich ist, wenn wir einfach mal unsere Routine hinten anstellen. Lucia Brauburger zeigt, wie kleine und große Veränderungen gelingen.
Ich assoziiere mit dem Begriff Neuanfang etwas sehr Absolutes. Als müsste alles, was mein Leben ausmacht, auf den Prüfstand gestellt und einer radikalen Runderneuerung unterzogen werden. Wie anstrengend! Kein Wunder, dass mein Ich gleich nein sagt und ich lieber in den Verharrungsmodus verfalle. Dieser Impuls hat zweifellos seine Berechtigung. Wir schützen uns selbst davor, zu große Risiken einzugehen, bleiben auf unseren ausgetretenen Pfaden und halten an „unserer Herde“ fest – eine brauchbare wie bewährte Überlebensformel. Aber diese Verhaltensweise hat auch einen Nachteil. Durch das Festhalten an der Routine verkümmert etwas, was in uns mindestens genauso angelegt ist wie der Drang nach Sicherheit: die Lust auf Neues.
Raus aus der Routine
Diese Lust auf Neues spielt in unserem Leben durchaus eine Rolle. Im Urlaub zum Beispiel genießen wir genau das – anders zu sein als im Alltag, Dinge zu tun, die wir sonst nicht machen, uns zu begeistern für eine andere Umgebung und andere Menschen. Diese Eigenschaft legen wir jedoch in dem Moment ab, in dem wir uns wieder in unserer gewohnten Umgebung befinden. Schade eigentlich, denn dadurch entgeht uns so manches, was das Zeug dazu hätte, unseren Alltag zu bereichern; die Fähigkeit zum Beispiel, uns auch in unserem „normalen Leben“ auf etwas einzulassen, das wir nicht kennen.
Dabei würde uns genau das guttun!
Beispiel: Sie müssten nach der Arbeit eigentlich nach Hause, gönnen sich aber spontan einen Spaziergang in der Sonne und genießen es, den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Oder Sie überraschen Ihre Freunde mit einem exotischen Gericht und alle fragen sich, wie Sie das so toll hinbekommen haben. Oder Sie lassen Ihr Auto einfach mal stehen, erledigen Ihre Besorgungen mit dem Fahrrad und lernen prompt Straßenzüge kennen, die Ihnen richtig gut gefallen.
Diese Beispiele sind lapidar. Doch Sie sollten nicht unterschätzen, welche Wirkung von ihnen ausgeht. Sie beschreiben nämlich Situationen, die zeigen, wie bereichernd es ist, vom gewohnten Pfad abzuweichen, und was möglich ist, wenn wir einfach mal unsere Routine hintanstellen. Hinzu kommt: Wir können feststellen, dass die Hinwendung zu etwas Neuem gar nicht so schwierig ist, wie wir zunächst vielleicht dachten, dass uns unsere Umgebung positives Feedback gibt und dass wir vielleicht sogar etwas erleben, das wir in Zukunft gerne in unser Repertoire aufnehmen wollen.
Neuanfänge zulassen – auch eine Frage der Erfahrung
Einen Neuanfang zu machen bedeutet, etwas zu verändern. Routinen werden abgewandelt, Gelerntes wird modifiziert, vielleicht sogar komplett durch Neues ersetzt. Drei Stellschrauben können sich dabei positiv wie negativ auswirken:
- Wie geht unser soziales Umfeld damit um? Erhalten wir zum Beispiel Unterstützung?
- Trauen wir uns die Veränderung grundsätzlich zu?
- Haben wir die Kompetenz, die Veränderung tatsächlich auch durchzuführen?
Genau hier kommt der Faktor Erfahrung ins Spiel: Unser Gehirn erlebt ungewohnte Situationen als Stress. Tatsächlich können wir jedoch etwas dafür tun, dass sich unser Stresslevel ändert! Indem wir zum Beispiel im normalen Alltag immer wieder einmal etwas anders machen als sonst und regelmäßig unseren Horizont erweitern und spielerisch Neues ausprobieren. Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem Neuanfang
à la „Ich ändere mein Leben!“
Aber es ist eine Vorstufe davon. Erfahrungen, denen wir uns im Probiermodus aussetzen, helfen uns, unser Zutrauen in uns zu stärken oder auch, die Fähigkeiten zu entwickeln, die wir vielleicht sogar brauchen, wenn irgendwann einmal eine relevantere Änderung ansteht, wie zum Beispiel eine neue Sprache lernen oder einen Computer-Kurs machen.
Neuanfänge kann man üben
Die Diplom-Psychologin Dr. Daniela Blickhan empfiehlt in diesem Zusammenhang, den eigenen Standpunkt bewusst zu erweitern, Dinge neu zu bewerten und damit offener zu werden für Neues: „Neuanfänge gibt es im Kleinen wie im Großen. Das Üben mit kleinen Veränderungen kann uns helfen, auch mit den großen Veränderungen umzugehen!“ Ein ausgesprochen interessanter Ansatz. Wir alle haben ja nicht im gleichen Umfang das Zeug dazu, uns auf veränderte Situationen einzulassen oder Veränderungen offensiv anzugehen. Sind wir in unserem Verhalten offensiv und flexibel oder gehören wir eher in die Kategorie zurückhaltend? Erleben wir Neues als Bedrohung oder freuen wir uns darauf?
Ob wir Neuanfänge als Chance betrachten oder nicht, so Blickhan, hat auch mit unserer Veranlagung, unserer Sozialisation und unseren biografischen Erfahrungen zu tun. Aber eben nicht nur! Was ebenfalls zählt, ist unsere persönliche Einstellung. Und diese bilden wir aus unseren Erfahrungen. Wir können also an unserer Einstellung arbeiten, indem wir Neuanfänge regelrecht üben! Je öfter wir Neuland betreten – in welcher Form auch immer – desto interessanter und selbstverständlicher wird es für uns, mit Neuem umzugehen.
Klingt irgendwie schlüssig, finden Sie nicht? Und irgendwie auch vertraut. Denn uns auf Neues einzulassen ist ja eigentlich etwas, das uns ursprünglich einmal in die Wiege gelegt wurde. Oder was, denken Sie, passiert in unseren ersten Lebensjahren? Sich auf Neues einzulassen gehört zur Alltagserfahrung eines jeden Kindes. Genauso übrigens wie die Fähigkeit, zu scheitern. Für ein Kind, das Laufen lernt, ist es das Natürlichste der Welt, zu fallen und wieder aufzustehen. Wir alle haben irgendwann einmal so angefangen.
Neugier ist ein natürliches Bedürfnis
Wie Kinder die Welt sehen, sollte uns zu denken geben: Neugier ist ein von Grund auf natürliches Bedürfnis, und dass etwas Neues nicht gleich auf Anhieb gelingt, ist nichts, was uns abschrecken sollte. Vielleicht rufen wir uns das immer wieder mal vor Augen, wenn wir uns mit dem Begriff Neuanfang auseinandersetzen. Es gibt Neuanfänge im Großen, aber auch im Kleinen. Und genau hier können wir ansetzen und daran arbeiten, unseren Radius zu vergrößern, Dinge einfach mal auszuprobieren – und zwar nicht nur dann, wenn wir irgendwo anders sind, sondern in unserem ganz normalen Leben. Das Schöne daran: Diese Herangehensweise verlangt nicht, mit Bestehendem radikal zu brechen oder zurück zum Start zu gehen. Sie erlaubt uns vielmehr, ein Gespür dafür zu bekommen, was uns wichtig ist, wie wir ticken oder vielleicht sogar, was in uns steckt. Gibt es eine bessere Voraussetzung dafür, einen Neuanfang zu starten?
Unsere Autorin Lucia Brauburger hat mehr als zehn Jahre als TV-Redakteurin gearbeitet, bevor sie 2001 ihre eigene Agentur für PR, Kommunikation und Dialog gründete. In ihrem Buch „Das Arboreus-Prinzip“ beschreibt sie, wie die Natur mit ihren Herausforderungen umgeht und was wir daraus lernen können. Brauburgers Fazit: erstaunlich viel.