Eckhart Tolle: Der Meister der Stille

„Auf die Stille zu hören, wo immer du bist, ist ein leichter und direkter Weg, um in die Gegenwärtigkeit zu kommen.“

Eckhart Tolle ist der wohl einflussreichste spirituelle Lehrer unserer Zeit. Er ist keiner religiösen Tradition oder Weltanschauung verpflichtet und gehört auch keiner speziellen Religion, Sekte oder Tradition an. Tolle geht es um die persönliche Erfahrung, nicht um systematische Unterweisungen theoretischen Wissens. Wer nur nach Geistesnahrung, klugen Ideen intellektuellen Erklärungen praktischen Handlungsanweisungen sucht, wird enttäuscht. Tolle sieht seine Aufgabe eher im Wegschaufeln dessen, was uns von unserem tiefsten inneren Wissen trennt.

Nur die Gegenwart zählt

Seine Kernaussage lässt sich auf „Nur die Gegenwart zählt“ reduzieren. Doch meist haben wir unseren Wohnsitz in der Vergangenheit oder der Zukunft aufgeschlagen, nur allzu selten schauen wir im gegenwärtigen Moment vorbei. Die ständige Beschäftigung mit dem, was war, und dem, was sein wird, hindert uns daran, zu uns selbst zu finden. Nur ein Umzug ins „Jetzt“ führt zu innerem Frieden, so der spirituelle Lehrer. Doch obwohl sich diese Lehre sehr leicht anhört, ist ihre praktische Umsetzung nicht einfach. Da besteht zunächst die Gefahr, die Botschaft als intellektuelles Gedankenkonstrukt misszuverstehen. Die begriffliche Einsicht, dass der Zeiger unserer Lebensuhr immer auf „Jetzt“ steht, bleibt nur eine rein zerebrale Reizung, solange wir sie nicht in die Praxis umsetzen. Dann denken wir vielleicht: Ja genau, so ist das, nur der gegenwärtige Moment zählt, ich sollte nicht so viel über die Vergangenheit grübeln und mir über die Zukunft weniger Sorgen machen, sonst entgeht mir das Leben … und schon sind wir wieder in unseren Denkmustern gefangen. Es ist wie Fahrradfahren. Was hilft die schönste Theorie, wie wir zwischen zwei schmalen Reifen das Gleichgewicht halten, wenn wir es nicht tatsächlich ausprobieren?

Sich auf den Augenblick einlassen

Wir benötigen mehr als intellektuelle Einsicht, um uns im gegenwärtigen Augenblick heimisch einzurichten. Morgens nehmen wir uns vielleicht vor, im Laufe des Tages immer wieder innezuhalten, vom Denken ins Spüren zu wechseln und uns kleine Sein-Inseln im Meer des Tuns zu schaffen. Doch Gewohnheitsenergien sind stark und zäh. Tun erscheint wertvoller als Nicht-Tun. Stets wollen wir etwas erreichen. Oder wir hadern mit dem, was ist, und wollen es loswerden. Wir leiden, weil wir nicht bekommen, was wir wollen oder bekommen, was wir nicht wollen. Und auch wenn wir bekommen, was wir wollen, währt die Befriedigung nur kurz, schon nehmen wir es als selbstverständlich und machen uns auf zu neuen Zielen. So bleiben wir auf Vergangenheit und Zukunft fixiert.

Wie kann es also gelingen, unseren Hauptwohnsitz in den gegenwärtigen Moment zu verlegen? Hier bringt Tolle die Stille ins Spiel. Ausgerechnet Stille, fragen Sie jetzt vielleicht? Laufen wir nicht genau vor ihr die ganze Zeit davon? Fürchten wir sie nicht wie der Teufel das Weihwasser? Ein Moment ohne Beschäftigung, schon greifen wir nach Smartphone, Fernbedienung oder beginnen, den nächsten Urlaub zu planen. Das Gewahrsein auf die Stille zu richten, behagt dem Geist nicht. Er beginnt sich zu langweilen, wird unruhig und schon begibt er sich auf Wanderschaft.
Doch was geschieht, wenn wir die Absetzbewegungen des Geistes freundlich bemerken und trotzdem immer wieder in die Stille zurückkehren? Und mit Stille ist hier nicht die Abwesenheit von Geräuschen gemeint. „Geräuschlosigkeit ist hilfreich“, sagt Tolle, „aber du brauchst sie nicht, um zur Stille zu finden.“ Stille ist die Grundlage aller Töne und immer präsent.

Die Stille in mir zulassen

Um Stille in uns wiederzuentdecken, brauchen wir keinen möglichst leisen Ort aufzusuchen. Wir können ihr immer und überall begegnen. Stille lässt sich nicht im Autopiloten wahrnehmen, sie bedarf der Bewusstheit. Lassen wir uns auf sie ein, erwacht die Stille in uns. „Sich seines Bewusstseins gewahr werden,“ sagt Tolle, „bedeutet das Entstehen innerer Stille“.
Veronika Schantz

Foto: Carolina Turek

Den Artikel finden Sie in unserem Sonderheft Achtsam Sein 8/2021

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