Abschied als Anfang

Alles geht vorüber – und manchmal sind wir darüber sogar glücklich. Wer dem Loslassen und Abschiednehmen einen angemessenen Rahmen gibt, kann aber gestärkt daraus hervorgehen.

Vieles kann sich verändern, fast alles auch anders werden, anders als gewohnt. Wir lieben das Neue, sind von Natur aus nicht „altgierig“, sondern neugierig. Verluste mögen wir nicht. Wir haben uns im Gewohnten so gut eingerichtet, und dann geht auf einmal sicher Geglaubtes verloren – ohne unsere Einwilligung. Was bleibt ist nur die Erinnerung in uns. Auf sie hat das Schicksal keinen Zugriff.
Die Zukunft ist ungewiss, offen, unverfügbar. Gewiss sind uns Menschen nur Geburt und Tod. Und über den Tod sprechen wir öfter als über die Geburt. Der Tod bedroht ja auch unser aktuelles Leben – wir werden eines Tages sterben. Aber eigentlich ist die Geburt das viel erstaunlichere Ereignis. Mit jedem Kind, das geboren wird, fängt ein Leben neu an – öffnet sich eine große Zukunft, die es gestalten kann. Man wird geboren, um dieses eine Leben zu leben und gemeinsam mit anderen Menschen zu gestalten. Und mit dem individuellen Tod geht auch eine ganze Welt verloren.

Die Zukunft ist ungewiss, offen, unverfügbar

Die Tatsache, dass wir sterben müssen, schärft aber auch den Blick dafür, dass immer wieder Kinder geboren werden und damit das Leben weitergeht. Gerade dadurch, dass auch immer etwas zu Ende geht, der Tod ins Leben hereinragt in Form vieler Verluste, macht den Blick frei auf unsere Fähigkeit, uns Neues, noch nicht Dagewesenes, vorzustellen und es mit anderen zusammen auch in einem gewissen Maße zu realisieren.

Wir möchten doch am liebsten alles so behalten, wie es ist und Neues nur dazu gewinnen. Doch meist empfinden wir jeden Abschied als einen Verlust. Dass Abschiede auch Raum für Neues lassen, fällt uns meist weniger ins Auge. Abschiede erfordern das Neugestalten der Zukunft und fordern unsere Kreativität heraus. Zunächst aber möchten wir so weiterleben, wie wir es gewohnt sind, im Rahmen des uns Vertrauten. Wir gehen davon aus, dass so, wie das Leben jetzt ist, es auch ähnlich oder noch besser in der Zukunft sein wird. Ein wenig anders sicher, sonst wäre es ja langweilig, aber nicht grundsätzlich anders. Vorhersehbar mit einigen guten Überraschungen. Dementsprechend planen wir auch in die Zukunft hinein, als wäre sie eine verlässliche Verlängerung der Vergangenheit und der Gegenwart.

Manchmal kommt alles anders

Kommt es dann doch anders, sind wir in unseren Grundfesten erschüttert. Ein Krieg, eine Pandemie, die ökologische Krise – all die großen Unsicherheiten sind in unserem Denken nicht vorgesehen, sollten sich nicht ereignen – oder wenigstens weniger einschneidend sein. Wir haben doch alles so schön geplant, und jetzt kommt es plötzlich doch anders, als wir es uns vorgestellt haben. Und vieles, was man im Laufe eines Lebens lieb gewonnen hat, ist nicht mehr: Menschen, an die man sich gewöhnt hat, die wie ein Schutzschild zum eigenen Leben gehören, sind weggezogen oder gar verstorben. Dinge, auf die wir uns verlassen haben, sind zerbrochen oder unwichtig geworden – neue Dinge haben ihnen den Rang abgelaufen. Ideen, die unumstößlich zu sein schienen, gelten nicht mehr oder nur noch bedingt. Viel – auch eine vermeintliche Sicherheit – haben wir verloren.

Wie mit Verlusten umgehen?

Verlustsituationen werden oft als Krisen erlebt. Und die fordern Menschen heraus – haben sie schon immer herausgefordert. Mein eigenes Leben, das Leben derer, die ich liebe, die Welt als Ganze, die Natur, die Mitmenschen – alles ist in Frage gestellt. Angesichts von so viel Unverfügbarem, Ungewissen kann man sich hilflos fühlen. Eine Abschiedsstimmung macht sich breit – ein Gefühl, in dem man sich auch selbstmitleidig einrichten kann.

Vielleicht mit der Lust am Gestalten

Aber vielleicht nimmt man auch eine Bewegung des Aufbruchs wahr, ein Ahnen zunächst. Wissend, dass es schwierig ist, sich nicht einfach schnelle Lösungen anbieten, wissend, dass sich noch vieles so verändern kann, wie es uns nicht passt. Dann hat man vielleicht auch Lust, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, zusammen mit anderen Menschen, die in der gleichen Situation sind, Vorstellungen von einer lebbaren Zukunft zu machen, für unser gemeinsames Leben, unser eigenes Leben, für die Umwelt, die Natur, die Mitmenschen. Die Notwendigkeit, sich neu auszurichten auf die Zukunft, sich neue Vorstellungen von der Zukunft zu machen, wird unumstößlich, will man gut weiterleben. Es könnte aber auch eine Lust am neuen Gestalten entstehen.
Verena Kast

Zum Weiterlesen: Verena Kast, Abschied als Anfang, Patmos Verlag

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2024

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