Warum es nie zu spät ist

Die Schweizerin Margrit Brüngger sehnte sich schon immer danach, ihr Leben mit mehr Sinn zu füllen. Doch erst als sie im Ruhestand ist, hat sie den Ort entdeckt, nach dem sie so lange gesucht hat. Sie findet ihn im Nordwesten Tansanias und erfüllt sich einen Lebenstraum, indem sie anderen Menschen hilft.

Als junges Mädchen bin ich ziemlich unsicher durchs Leben gegangen. Ich traute mir nicht allzu viel zu. Einmal, als junge Frau, bin ich in einem Aufzug einem älteren, grauhaarigen Herrn begegnet. Als ich ausstieg, sagte er zu mir: „Sie können mehr, als Sie glauben und sich zutrauen.“ Und weg war er! Darüber war ich echt erstaunt, und diese Bemerkung ließ mich nie mehr los.
Ich bin in bescheidenen Verhältnissen in der Ostschweiz aufgewachsen. Wir waren sechs Kinder: Ich war die Vierte und diejenige, die sich immer um den jüngsten Bruder, den Nachzügler, gekümmert hat. Das zu schmale Budget für eine achtköpfige Familie zwang unsere Mutter dazu, sehr viel zu arbeiten, um uns durchzubringen. Wir Kinder verdienten uns schon früh neben der Schule mit Jobs Geld dazu. Ich sammelte zum Beispiel Flaschen und Zeitungen, half in Cafés und Restaurants aus, machte Einkäufe und wusch Geschirr für andere. Freizeit war mir fremd. Trotz oder gerade wegen des holprigen Starts ins Leben träumte ich schon als kleines Mädchen davon, irgendwann nach Afrika zu gehen. Schon damals hatte ich einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Mein Traum war, dass kein Kind auf dieser Welt Hunger oder Durst leiden sollte. Bis ich den Ort fand, wo ich für diesen Traum kämpfen konnte, sollte es aber noch Jahrzehnte dauern.

Mein Lebensziel war, Menschen zu helfen

Viele Jahre arbeitete ich als Assistentin des Geschäftsführers eines Outplacement-Unternehmens. Es war eine spannende Arbeit, aber nicht mein wirklicher Lebenstraum. Meinen Urlaub nutzte ich vor allem zum Reisen. Ich wollte andere Länder, andere Lebensweisen, mir fremde Welten kennenlernen. Ich bereiste zum Beispiel die Mongolei, Nepal, Peru und Japan, fuhr mit der transsibirischen Eisenbahn durch Russland – immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, ob das vielleicht der Ort sein könnte, an dem ich etwas Sinnvolles bewegen kann. Gefunkt hat es aber nie. Als ich in meinen Vierzigern war, wurde meine Mutter krank. Ich gab meine Stelle auf, um sie zu pflegen. Das tat ich acht Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Danach begann für mich eine schwierige Zeit. Ich war von der jahrelangen, unglaublich intensiven Pflege komplett erschöpft. Die Trauer überwältigte mich. Ein Schritt aus dem Haus hätte gereicht, um den Weg ins Leben wiederzufinden, aber das schaffte ich lange Zeit einfach nicht. Es wurde erst wieder gut, als ich mich wieder um eine neue Stelle bemühte und diese auch ganz schnell fand, wieder mit dem Radfahren anfing und mit Gartenarbeit. Mit dem Fahrrad die Welt zu erkunden, wurde zu einer meiner Leidenschaften. Viele europäische Städte und halb Skandinavien eroberte ich mit meinem Fahrrad. Ich war wieder zurück im Leben.
Irgendwann, ich war schon in Rente, lernte ich eine Flugbegleiterin kennen, die ein Waisenheim in Tansania aufgebaut hatte. Sie lud mich ein, ihr Kinderheim zu besuchen. Das war mein erster Kontakt mit Mama Afrika. Die Gründerin des Projekts entschloss sich ein paar Jahre später, neben dem Heim noch eine Schule aufzubauen, und ab da fühlte es sich für mich irgendwie an wie eine elitäre Privatschule. Ihre Vorstellung und meine Ziele waren nicht mehr dieselben, und so entschied ich, mich kurzerhand alleine in den Busch abzusetzen. Vielleicht kam ich ja jetzt dem gewünschten Ziel näher, da zu sein, wo die Menschen große Not leiden und Hilfe brauchen und sonst niemand hilft.
Ich wusste von einem abgelegenen kleinen Dorf namens Itobo, mitten im westlichen zentralen Hochland Tansanias. Das sanft hügelige Land wird von Tälern durchschnitten, deren Flüsse nur temporär Wasser führen. Das war alles, was mir darüber bekannt war. Kurzerhand setzte ich mich in den Bus nach Itobo, ohne zu wissen, was mich erwartet. Das passte endlich wieder zu mir. „Du wirst dann schon sehen, was auf dich zukommt“, dachte ich – und los ging es.

Es ist der Ort, nach dem ich gesucht hatte

Morgens um sechs Uhr startete die Reise am unglaublich belebten Busbahnhof von Dar es Salaam, in einem mit Menschen, Tieren und Gepäck überfüllten uralten Bus. Ob der Fahrer eine Lizenz hat oder nüchtern ist, ob Bremsen und Licht funktionieren – all das war nicht so klar, dafür wusste ich mit Sicherheit, dass der Bus eine Hupe hatte! Als bereits wieder die Nacht anbrach, rasten wir immer noch quer durchs Land, und ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Als ich im Bus herumfragte, kannte keiner Itobo. Ich beschloss schließlich, trotzdem im Bus sitzen zu bleiben. Am Ende dieser wirklich abenteuerlichen, achtzehnstündigen Busfahrt stellte ich dann fest, dass die Station nicht Itobo heißt, sondern Nzega, wie der Distrikt. Aber ich war genau da, wo ich hinwollte – eine Punktlandung.
In Itobo/Nzega hatte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, den Einsatzort für mich gefunden zu haben, nach dem ich immer gesucht hatte. Dieses Gefühl verstärkte sich, je häufiger ich dort war und je tiefer in den Busch ich ging. Später lernte ich andere Einheimische kennen, die mir dabei halfen, dahin zu kommen, wo Hilfe nötig war. Der wichtigste davon ist Cornelius Wishi Maganga. Als „District School Quality Assurance Officer“ des Distrikts Nzega kennt er nicht nur alle Schulen im Umkreis von circa zweihundert Kilometern, sondern auch alle Gemeinden. Und er spricht zwölf verschiedene Dialekte, die in diesem Gebiet gesprochen werden. Er ist mein ständiger Begleiter und die wichtigste Person vor Ort für mich. Außerdem ist er für mich die Brücke von den Sponsoren zu den Kindern.

Ich war am Ziel und gleichzeitig am Anfang

Ich war am Ziel und gleichzeitig am Anfang – am Anfang, meine Visionen und Träume zu verwirklichen. Wassermangel ist die größte Not überhaupt. Wasser bedeutet Leben und ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung unserer Zivilisation. Mein vorrangiges Ziel war und ist deshalb dieses überlebenswichtige Gut. Ohne Wasser ist alles andere sinnlos. Aus diesem Grund begann ich zunächst mit Regenrinnen und sechs großen Wassertanks, Regenwasser aufzufangen – dann begann meine Suche nach Grundwasser. Ein deutscher Sponsor hatte mir Geld dafür zur Verfügung gestellt. Ich staune selbst, dass ich mich überhaupt daran gewagt habe. Mittlerweile haben wir 30 produktive neue Brunnen gebaut. Damit versorgen wir mehr als 100.000 Menschen in der Umgebung mit sauberem, salz- und vor allem bakterienfreiem Wasser. Keine stundenlange Wassersuche mehr für Frauen und Kinder, keine gefährlichen, lokalen Wasserlöcher und keine durch kontaminiertes Wasser ausgelösten Krankheiten mehr, die häufig zum Tod führen, weil es keine ausreichende medizinische Versorgung gibt. Ein weiterer Schwerpunkt sind die Toiletten, die fast überall in einem desolaten Zustand sind. Nicht selten teilen sich tausend Kinder eine Toilette. Damit sind sie gezwungen, in den nahe gelegenen Busch zu gehen, und das ist alles andere als ungefährlich – die meisten suchen das stille Örtchen barfuß auf. Schlangen, Skorpione, vor allem aber die herumliegenden Exkremente sind große gesundheitliche Gefahren. An 38 Schulen wurden in den vergangenen Jahren neue Toiletten gegen diese Not gebaut.

Zum Weiterlesen: Sarina Pfauth, Debora Kuder, Die Kunst des Neuanfangs, bene Verlag, 20 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 1/2025

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