„Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber du kannst sie heilen“, so die Psychotherapeutin Nady Mirian. Sie zeigt, wie wir nach schweren Lebensphasen unseren Blick wieder nach vorn richten können.
Geht es dir auch oft so, dass du inmitten eines hektischen Alltags voller Leistungsansprüche mit deinen Gedanken überall bist –, nur nicht bei dir selbst? Erlaubst du dir, eine Auszeit zu nehmen, wenn du mal eine schwierigere Phase durchlebst?
Auch ich habe mich lange Zeit mit so vielen Themen im Außen beschäftigt, dass kein Platz mehr für Gefühle und vor allem Schmerz und Trauer blieb. Wie von unserer auf Selbstoptimierung getrimmten Gesellschaft erwartet, wollte ich stets funktionieren, leisten, immer weitermachen und auf gar keinen Fall hinfallen. Auf Andere wirkte ich meist ganz normal, vielleicht etwas gestresst, doch dass sich hinter dieser Fassade noch viel mehr verbarg, ahnte ich selbst damals auch noch nicht.
Jeder von uns spürt gerne Freude, Glück und Leichtigkeit, doch sobald uns etwas Schmerzhaftes widerfährt, verschließen wir uns häufig. Wir haben gelernt, dass Leid keinen Raum haben darf, schließlich mindert es unsere Leistungsfähigkeit. So sagt auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Nady Mirian: „Die Leidverarbeitung […] überspringen wir häufig auch aus dem Grund, da wir es als persönliches Scheitern interpretieren. Wir gehen davon aus, dass wir unseren Alltag ohne gute Laune nicht bewältigen“. Wir glauben, einfach weitermachen zu können, denn „wir müssen doch stark sein“.
Mir ging es ähnlich: Ich lenkte so viel Energie in meinen Kopf und alles Rationale, dass ich irgendwann selbst glaubte, auf der Gefühlsebene wäre gar nichts mehr vorhanden. Letztendlich belügen wir uns damit aber selbst, denn die Wahrheit ist: Wir haben Angst davor, mit unseren schmerzhaften Gefühlen in Berührung zu kommen, da wir keinen guten Umgang mit ihnen gelernt haben. Wir vermeiden unsere unangenehmen Gefühle lieber, als uns mit ihnen zu konfrontieren oder sie zu bearbeiten.
Wir können nicht ewig flüchten
Von Natur aus kommen und gehen Gefühle in Wellen, sowohl positive als auch negative. Dies lässt sich aber nicht erzwingen, denn solange ein Gefühl nicht von selbst abklingt, wird es im Körper gespeichert und kommt irgendwann erneut zum Vorschein. Bei dem Bild vom dauerhaften Glücklichsein, wie wir es so oft in den sozialen Medien präsentiert bekommen, kann es sich also nur um eine Illusion handeln. „Diese Pseudo-Happiness ist ein Ausdruck von Realitätsflucht, denn jedes Leben hat hohe und tiefe Phasen“, so Nady Mirian. Und: „Wir können es nur so lange überspielen, bis das Leid unabwendbar anklopft.“ Je weniger Raum wir also einem Gefühl geben, je mehr wir es von uns wegschieben, umso größer ist das Risiko, dass es uns einholt und wir von all unseren Gefühlen auf einmal überflutet werden. Irgendwann war auch bei mir der Punkt gekommen, an dem ich keine Kraft mehr hatte.
Der Weg zur Akzeptanz
Mittlerweile weiß ich: Wir können schmerzhafte Erfahrungen nicht einfach so vergessen und verdrängen. Wenn wir uns aber unseren Verletzungen zuwenden und auch unsere negativen Gefühle sowie die äußeren Umstände, die wir nicht ändern können, akzeptieren, gelangen wir zu wahrer Heilung und strahlen später umso stärker. Mir half die Betrachtungsweise, um mit schwierigen Gefühlen besser umzugehen. Aber das war ein langer Weg und meine Reise ist noch nicht abgeschlossen. Löse dich also von jeglichem äußeren Druck, denn Akzeptanz ist kein Life-Hack“, den man von heute auf morgen beherrschen muss. „Es ist vielmehr ein Prozess, der an die individuelle Situation angepasst werden muss – und das benötigt nun mal seine Zeit“, so Nady Mirian.
Der Nutzen aus schweren Lebensphasen
Bereits der Psychiater Carl Gustav Jung wusste: „Es gibt kein Glück ohne Leiden.“ Tatsächlich halten schwere Lebensabschnitte wichtige Botschaften für uns bereit, die uns, wenn wir sie uns zu Herzen nehmen, wachsen lassen:
Bewusstsein und Dankbarkeit
Wenn wir bereits widrigen Lebensumständen ausgesetzt waren, sind wir hinterher umso dankbarer für unbeschwerte und freudvolle Zeiten. „Leid sollte man … früh als Bestandteil des Lebens betrachten, ohne das pessimistisch zu sehen, sondern um dadurch bewusster zu leben“, rät Nady Mirian.
Innere Stärke und Resilienz
Wenn wir uns direkt mit unserem Leid konfrontieren, anstatt es zu verdrängen, müssen wir nicht ständig in der Angst leben, dass es irgendwann herausbricht. Zudem wappnet uns der erlernte Umgang für weitere schwierige Phasen. Dies führt uns zu mehr innerer Stärke.
Neue Erkenntnisse
Leidvolle Phasen werfen uns oft aus der Bahn. Doch so fangen wir an, unsere bisherige Lebensweise zu hinterfragen und können neue Erkenntnisse gewinnen.
Mut für Veränderungen
Unsere neuen Erkenntnisse helfen uns dann auch hinterher dabei, gewisse Umstände in unserem Alltag zu verändern. Leiderfahrungen können ein Anlass dazu sein, unser Leben nach unseren persönlichen Bedürfnissen neu auszurichten.
Vom Umgang mit der Trauer
Ein Beispiel für einen Umgang mit Trauer zeigt ein Interview, das Nady Mirian mit Teresa Enke, der Frau des ehemaligen Nationaltorwarts Robert Enke, geführt hat: Auch nachdem zunächst ihre Tochter im Alter von zwei Jahren verstarb und ihr Mann sich drei Jahre später das Leben nahm, blieb sie ganz bei sich und machte sich auf ihren eigenen Weg der Trauerverarbeitung. Beide Male konfrontierte sie sich direkt mit ihrem Schmerz, indem sie die Körper ihrer geliebten Personen für einige Tage zu sich nach Hause holte. Was bei den meisten auf Unverständnis stieß, half ihr, auf ihre eigene Weise Abschied zu nehmen und irgendwann wieder neue Kraft zu finden. Im Interview erzählt sie: „[…] die Zeit heilt die Wunden nicht! Ich habe jetzt wieder ein gutes Leben, und es war schwer. Ich traue mich, das auch zu sagen, dass ich wirklich wieder ein schönes Leben habe. Ich bin super dankbar, auch für die Zeit, die ich hatte, auch die schweren Phasen.“ Der Weg, mit Trauer umzugehen, kann für jeden anders aussehen, doch eines ist klar: Man kann lernen, mit ihr zu leben und trotz allem auch wieder Glück zu spüren.
So richtest du deinen Blick wieder nach vorn
„Wir sind ohne Leid nicht in der Lage, resilient zu werden“, so Nady Mirian. Resilienz lässt sich erlernen und im Laufe des Lebens weiterentwickeln. Die folgenden Strategien können dabei hilfreich sein:
- Positive Grundeinstellung
Wenn du eher davon ausgehst, eine schwierige Situation grundsätzlich bewältigen zu können, kann das dein Handeln positiv beeinflussen. Optimismus, Hoffnung und die Zuversicht, dass auch wieder bessere Phasen folgen werden, können zu wertvollen Verbündeten werden.
Zum Weiterlesen: Nady Mirian, Leid – Die emotionalen Wellen des Lebens, Kösel Verlag, 20 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2024
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