Schwimmen belebt den Geist und erfrischt den Körper. Wir können uns freischwimmen, alles Schwere und Belastende abstreifen. Doch es gibt noch weitere Gründe, warum eine Auszeit am und im Wasser unserer Seele so guttut
Wenn das kein Glück ist: Abends am menschenleeren Strand sitzen unter den Sternen des Himmels, sich in den noch warmen Sand eingraben und hören, wie sie plätschern, rhythmisch und leise klatschend, sanft, aber voller Kraft: Meereswellen. Die Urerfahrung der Weite und Ewigkeit an einem Ozean – schon der Anblick erhebt, weitet Herz und Verstand und die Imagination, lässt die kleinen Alltagsgedanken verschwimmen.
Wasser reinigt und klärt
Oder am Wasser sitzen, über den See oder den Fluss blicken. Oder am Teich den Enten nachschauen. Oder als Angler irgendwo allein die Angel übers Wasser halten und warten und warten und in aller Ruhe vor sich hinträumen. Ob unter der Dusche am Morgen (nicht zu lang natürlich, aber doch so, dass bei der Berieselung die Gedanken auch abschweifen können), ob in der lauwarmen Badewanne am Abend (wenn im Vollbad der ganze Tag in seinen schönen Seiten noch einmal Revue passieren kann), ob beim bunten Treiben am Baggerweiher in der Provinz oder im See mit der kultivierten Promenade, ob am südlichen oder nördlichen Meer oder am Ufer eines Flusses im Zentrum der Stadt, mit dem kurzen Weg in die Wellen: Wasser wäscht alles ab, reinigt, klärt.
Augenblicke der Lust
Es ist einfach ein Genuss, sich diesem Element auszusetzen. Gerade das, mitten im Sommer, mitten in der Stadt, an einem Fluss: kurz und heftig schwimmen und dann ans Ufer, heftig atmend und die Anstrengung noch im Körper spürend, und sich dann einfach ins Gras legen, sich gehen lassen – und dann vielleicht, wenn man Glück hat, einnicken. Wegschlafen am helllichten Tag.
Augenblicke der Lust: Durch einen Kopfsprung im Schwimmbad im Verlauf einer Sekunde das Element wechseln. Oder sich am Strand ganz langsam mit dem Nass verbinden, sich Zeit lassen zum Eintauchen: erst bis zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien, zu den Oberschenkeln, zur Hüfte und schließlich mit dem ganzen Körper. Oder sich im Wasser auf den Rücken legen und dem Zug der Wolken zusehen oder den Vögeln. Aber auch bis zum Bauchnabel im angenehm temperierten See stehen und sich unterhalten kann angesagt sein – und sehr angenehm!
Das Wasser spüren
Vielleicht hängt alles daran, dass unsere Vorfahren – geht man nur weit genug zurück – dem Wasser entstiegen sind, wo alles anfing. Wasser ist der Ort, welcher der Ursprung allen Lebens ist: Aus Urzellen und Einzellern im Wasser entwickelten sich vielzellige Organismen, die Urahnen der Pflanzen und Tiere. Ohne Wasser kein Leben. Immerhin, sagt man, bestehen wir selbst zu 98 Prozent aus Wasser. Vielleicht genießen wir es deswegen so, wenn wir Wasser spüren und uns mit diesem Element verbinden.
Wasser spüren heißt jedenfalls immer noch und immer wieder: Kraft erfahren, Lebendigkeit spüren. Man stelle sich nur eine aus dem Boden sprudelnde Quelle vor – Inbegriff der Unerschöpflichkeit, im christlichen Glauben sogar ein Bild für den Heiligen Geist. Oder man stelle sich, physisch, einmal unter einen Wasserfall, in einem Bad oder in der Natur. In Japan galt es übrigens über Jahrhunderte als heilige Übung, unter besonderen Wasserfällen zu stehen und so den Geist zu beruhigen.
Der 85-jährige Dichter Jorge Luis Borges hat am Ende seines Lebens eine Liste erstellt mit Dingen, die er gerne öfter gelebt, getan oder wahrgenommen hätte: Darunter: Nicht perfekt sein wollen. Mehr reisen. Sonnenuntergänge betrachten. Viel weniger Dinge ernst nehmen. Aber eben auch dies: In Flüssen schwimmen. Und seine Quintessenz, auch an dieser vermissten Erfahrung festgemacht: Nicht vergessen, dass das Leben nur aus Augenblicken besteht: „Vergiss nicht den jetzigen.“
Rudolf Walter
Zum Weiterlesen: Rudolf Walter, Genießen – was schön ist und gut, Herder Verlag, 172 Seiten, 20 Euro
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