Zwangshandlungen und -gedanken können zu hartnäckigen Begleitern werden, die das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen. Doch es gibt Wege, sie wieder loszuwerden
Vielleicht bist du auch schon einmal auf dem Weg zur Arbeit oder einer Veranstaltung umgekehrt, bist wieder nach Hause gefahren und hast schnell nochmal kontrolliert, ob du die Haustüre abgeschlossen, das Bügeleisen ausgeschaltet, die Kerzen auch wirklich ausgeblasen und die Waschmaschine ausgeschaltet hast. Und vielleicht hast du als Kind im Spiel mit deinen Freunden auch schon einmal jede Bewegung im Zeitlupentempo gemacht oder ihr durftet bei einem gepflasterten Weg nur auf die Fugen treten?
Ich kenne auch Menschen, die sich zum Beispiel öfter und gründlicher die Hände waschen müssen als der Durchschnitt oder auch solche, die die Reißverschlüsse ihres Rucksackes mehrfach nacheinander fest verschließen müssen, bevor sie ihn mit ruhigem Gewissen schultern können. Eine Bekannte kann immer nur eine bestimmte Anzahl an Lebensmitteln oder Dingen einkaufen und die Gesamtsumme des Einkaufs muss dann auch noch durch eine bestimmte Zahl teilbar sein. Und ein anderer junger Herr aus meinem Umfeld sammelt und hortet einfach alles, was ihm in die Finger kommt. Was aber, wenn solch einfache Rituale, schräge Macken, komische Ticks oder wilde Gedankenmuster still und heimlich zu einem Zwang werden und mich, dich oder auch andere Menschen in ihrem Leben einschränken?
Die heimliche Krankheit
Stell dir einmal vor, du wachst morgens auf und an diesem Tag sagt dir dein Schatten bei allem, was du tust: „Vorsicht!“ Sicher wärst du am Abend eines solchen Tages fix und fertig. Aber genau das ist der Missbrauch, den Menschen mit Zwängen den ganzen Tag durch ihre Zwangshandlungen mit sich selbst treiben.
Durch das süße Gift der Zwangshandlungen (Waschen, Kontrollieren, Vermeiden, Zählen, Sammeln etc.) gewinnen Betroffene zunächst eine Illusion der Sicherheit. In Wirklichkeit werden aber so die Bedeutung von Zwangsgedanken und die damit verbundene Anspannung immens verstärkt.
Fast ein Drittel aller Erwachsenen in Deutschland ist jedes Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen, so eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Gemeint sind sowohl Depressionen und Psychosen als auch Suchterkrankungen oder etwa Zwangsstörungen. „Während Zwangserkrankungen noch vor einigen Jahren als kaum oder schlecht behandelbar und so gut wie immer als chronisch verlaufend galten, sieht es heute ganz anders aus. Wir wissen, dass es mittlerweile sehr gute Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit Zwangserkrankungen gibt“, so die Verhaltenstherapeutin Katarina Stengler und die Psychologin Ina Jahn in ihrem Buch „Zwänge verstehen und hinter sich lassen“ und machen Mut dazu, sich seinen Zwängen zu stellen.
Zwänge tauchen in der Regel nicht von heute auf morgen auf, sondern entwickeln sich langsam aus persönlichen Macken, kleinen Auffälligkeiten, schrägen Angewohnheiten, Ticks und besonderen Eigenheiten, die zunächst ganz unauffällig Tag für Tag ausgeführt werden. Solche Abläufe erscheinen den Betroffenen dann selbstverständlich und werden in der Folge automatisch in den eigenen Alltag integriert.
Wenn die Macke zum Zwang wird
Erst allmählich merken sie dann an sich selbst, dass es ohne diese besonderen Eigenheiten im Lebensalltag nicht mehr geht, dass sie einem sogar Sicherheit geben und dass die ehemals kleinen Macken auf einmal den gesamten Alltagsablauf bestimmen, kontrollieren und dabei unglaublich viel Energie und Zeit rauben. Das Problem ist, dass die Grenzen zwischen routinierten Handlungen und zwanghaftem Verhalten fließend sind. Entscheidend für die Krankhaftigkeit und schließlich die Behandlungsbedürftigkeit ist jedoch, dass Betroffenen bewusst ist, dass ihre Ängste und Handlungen unverhältnismäßig sind, doch sie haben keine Kontrolle mehr über sie. Sie erkenne die Sinnlosigkeit in ihrem Tun und der Leidensdruck wächst.
„Oft bemerken Betroffene selbst schon eine längere Zeit, dass die immer wiederkehrenden Gedanken- oder Verhaltensweisen nicht mehr normal sind, was sie jedoch aus Scham eher verborgen halten. Manche Betroffene sind wiederum lange Zeit genauso ahnungslos wie die Angehörigen“, so Stengler und Jahn in ihrem Buch.
Zumeist treten Zwangserkrankungen auch nicht allein auf. Psychische, aber auch somatische Erkrankungen kommen oft hinzu. Sie können bereits vor der Zwangserkrankung da sein oder sich erst im Verlauf entwickeln. Wissenschaftler wissen, dass besonders häufig Depressionen und Angsterkrankungen bei Menschen mit Zwangserkrankungen vorkommen. Aber auch andere psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen können Begleiterkrankungen sein. Bei Zwangserkrankungen, die viele Jahre meist unbehandelt bestanden haben, können aber auch zusätzlich noch andere Folgeerkrankungen eintreten, was für die Betroffenen leider eine weitere Beeinträchtigung darstellt. So wird zum Beispiel bei Menschen mit einem ausgeprägten Waschzwang die Haut häufig so stark gereizt, dass es in der Folge zu behandlungsbedürftigen Hauterkrankungen kommen kann.
Welche Formen der Zwangserkrankung gibt es?
Man unterscheidet zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, wobei beide Formen häufig gemeinsam auftreten. Zwangsgedanken drängen sich ständig und unbeeinflussbar auf und haben leider immer einen unangenehmen Inhalt, der nichts mit dem eigentlichen Willen und Wollen der Betroffenen zu tun hat. Zwangshandlungen sind wiederholende Handlungen und Rituale, die trotz Widerstand und Einsicht in die Übertriebenheit oder Unsinnigkeit immer wieder ausgeführt werden müssen. Nach Ausführung verschaffen sie den Betroffenen zumeist kurzzeitig Entlastung, langfristig engen sie unter anderem den sozialen Aktionsradius und das wirkliche Leben erheblich ein.
Im Denken jedes Menschen kommen unangenehme, aggressive und aufdringliche Gedanken vor. Diese können jedoch im Allgemeinen gut beiseitegeschoben werden, gehen in den vielen, wichtigeren Alltagsgedanken unter und werden von Menschen, die nicht zwangserkrankt sind, nur nebenbei bemerkt. Menschen mit Zwangserkrankungen messen diesen Gedanken eine besondere, ganz wichtige Bedeutung bei. Diese unangenehmen Gedanken werden quasi hochsensibel aus den anderen normalen Gedanken herausgefiltert und können nicht mehr als normal oder vorübergehend eingeordnet werden“, so die Expertinnen Stengler und Jahn.
Zum Weiterlesen: Katarina Stengler, Ina Jahn, Zwänge verstehen und hinter sich lassen, TRIAS Verlag, 24,99 Euro
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 2/2024
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