Weiße Winterstille, das feine Knirschen des Schnees unter den Füßen, das Glitzern in der klaren Luft. Eine Auszeit im Schnee tut Körper und Seele gut! Mariele Diehl über ihr ganz persönliches Winterglück
Dort, wo der Asphalt einem kleinen, holprigen Feldweg weicht. Wo die Bäume immer höher, immer älter werden, wo der Himmel von Sternen übersäht und die Nachtluft schwer vom Eulengesang ist – dort steht ein Haus. Wer es einmal gesehen hat, weiß, dass das Haus in Wahrheit ein Schloss ist. Die verschneite Lichtung, auf der es steht, mitten im elsässischen Hardtwald, ist sein Königreich.
„Wer als erste da ist“, ruft meine Schwester und tobt durch den Schnee in Richtung des Hauses. Eine Sekunde schaue ich ihr nach, seltsam berührt von dem Moment, den schwarzen Haaren, an denen Schneeflocken kleben. Dann jage ich ihr hinterher.
Den Herbst hatte ich ziemlich antriebslos verbracht, bin zwischen Couch und Bett gependelt, habe meine kleine Wohnung nur zu unumgänglichen Terminen verlassen. Jetzt ausgelassen durch den Schnee zu rennen, zu tollen wie ein junges Reh, albern lachend kommt mir irgendwie noch surreal vor. Als sei der Schnee eine eigene Welt aus Weiß, weit weg von der Wirklichkeit. Eine Welt, die ich als Kind schon besucht habe, in der immer noch das Staunen und die Freude meiner frühen Lebensjahre kleben.
Kriegsgeheul und Rätsel-Würfel
„Hab dich!“ rufe ich, als ich meine Schwester einhole. Sie greift in den frischen Pulverschnee und bewirft mich mit einem Schneeball. Ich stimme ein Kriegsgeheul an, auf das meine 10-jährige Version sicher stolz gewesen wäre und stürze mich ins Gefecht.
„Wie seht ihr denn aus“ begrüßt uns unsere Tante, als wir in langen Unterhemden und Ski-Unterhosen das Wohnzimmer betreten, die Haare nass, die Wangen rot. Der schneebestäubten Kleidung haben wir uns bereits im Hausflur entledigt. Wir drängeln uns vor den Kachelofen, bibbernd und zufrieden. Aus der Küche hören wir unseren Onkel summen, der bereits das Abendessen kocht. Mein Vater liest ein Buch, genau wie meine andere Tante. Am Fenster sitzt ihr Mann und versucht einen Rätsel-Würfel aus Holz zusammenzusetzen. Das ist eine Art Wettbewerb unter uns – wer es am schnellsten schafft den Würfel wieder zusammenzusetzen. Aktuell führt meine Schwester.
Geht das überhaupt: Aus Verwandten Vertraute machen?
Großfamilienurlaub – das ist gewagt. Anstatt Ski fahren gehen mit Freunden, über die Wintermonate noch einmal ins Warme fahren oder die Adventszeit im Büro zu verbringen, haben wir beschlossen, den Winter so zu begehen, wie er seit Jahrtausenden gelebt wird. Im Kreise der Familie, an einem Ort, wo noch Bäume das Sternenzelt auf ihren Kronen tragen, wo kein Laternenlicht die langen Nächte vertreiben kann und nur der Kamin uns tagsüber wärmt.
Als wir auf unserer Suche nach Domizilen das „Schloss“ fanden, stand schnell fest, dass wir diesen Urlaub mal auf ein nettes Städtchen mit Restaurants in der Nähe verzichten würden. Stattdessen würden wir eine Woche mitten im Wald verbringen, auf einer kleinen Lichtung, in einem Haus, wie aus einem Märchen. Mit Türmchen, Kuppeln, weiten Veranden und einem kleinen Mühlrad.
Kaminabende an kalten Wintertagen
Mein Onkel kommt mit einem großen Topf Brokkoli-Suppe aus der Küche. Wir springen auf und versammeln uns am Tisch. Abends kommen wir immer zusammen. Während wir tagsüber alle unser eigenes Ding machen, den Wald erkunden, Klausuren korrigieren, mit Freunden telefonieren, ist abends Familienzeit. Es wird reihum gekocht. Was normalerweise eine Pflicht ist, wird im Schloss beinahe zelebriert. Die lange Tafel, die zu jedem Schloss dazugehört, wird herausgeputzt, Speisen werden kunstvoll serviert. Und der Koch mit „Hm, ist das lecker“, „Wow, wie hast du das denn gemacht?“ verwöhnt.
In einem Schloss braucht man keinen Fernseher
Der Fernseher funktioniert nicht. Aber irgendwie ist das auch ganz gut so. In einem Schloss braucht man keinen Fernseher. Stattdessen bauen wir nach dem Essen ein Teleskop auf und betrachten Jupiter und Mars auf der Terrasse (und rennen in regelmäßigem Abstand wieder rein, um uns die Hände aufzuwärmen). Meine Tante legt Karten. Mein Vater diskutiert mit meinem Onkel über Wissenschaft. Wir sind schon ein komischer Haufen. Mit Gekreische wird eine riesige Motte begrüßt, die um eine der Stehlampen kreist. Ich schaffe es, sie einzufangen. Wir lassen sie draußen frei. Die Eulenrufe in der Dunkelheit sind schaurig, der Wald ist laut, lebendig.
„Ich bin so froh, all das hier sehen zu können“, sage ich am nächsten Morgen. Wieder sind wir spazieren, haben einen weiteren der unzähligen verschlungenen Wege genommen, der vom Schloss wegführt. Die Natur um uns herum ist in friedlichen Posen unter Eis und Schnee erstarrt. Es schneit nicht länger, der Himmel ist blau.
Das Geräusch, wenn Schnee den Boden berührt
„Ich glaube, selbst wenn ich das hier nicht sehen könnte, würde ich trotzdem spüren, wie schön es ist“ sagt meine Schwester. Ich wende den Blick von den schneeweißen Baum-Skulpturen ab und schaue sie an. Eine Idee kommt mir: „Das möchte ich probieren. Kannst du mich führen?“ Ich halte ihr meinen Arm hin und schließe die Augen – widerstrebend, weil ich all die Schönheit um mich herum nicht missen will.
Mariele Diehl
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