Wir sind unterwegs auf dem Boot unseres Lebens. Die Suche nach dem Sinn ist unser ständiger Begleiter. Dabei brauchen wir nur die Augen offen zu halten und den Blick zu den Sternen richten. Irmtraud Tarr über das, was unserem Leben Halt und Tiefe gibt
Ein Mann bringt sein Auto in die Werkstatt. Als er es abholen will, meint der Mechaniker: „Ich konnte die Bremsen nicht reparieren, deswegen habe ich die Hupe lauter gestellt!“ Spiegelt dieser Witz nicht unser menschliches Dilemma? Niemand löst für uns das Sinnproblem, also versuchen wir uns irgendwie durchzuwursteln. Immerhin können wir hupen, auf uns aufmerksam machen, unser Bestes geben, um wenigstens gehört zu werden.
Warum sprechen heute so viele Menschen von Sinn? Offensichtlich haben sie das Bedürfnis, sich selbst und das Leben besser zu verstehen und das Verlangen nach Orientierung auf ihren Wegen. Immer höre ich: „Eigentlich habe ich alles und müsste glücklich sein – bin ich aber nicht. Alles ist so sinnlos.“
Das Bedürfnis, sich selbst und das Leben besser zu verstehen
Da das Leben in seiner Ganzheit einige Nummern zu groß ist, und wir selbst Teil dieses Lebensflusses sind, kann diese Frage nicht Gegenstand der Selbstreflexion sein. Nicht weil die Frage zu tiefgründig ist, sondern weil sie den Begriff „Sinn“ zu sehr weitet. Ähnlich wie: Was ist der Sinn der Liebe? Wer nach dem Lebenssinn fragt, hofft eine Sicht von außen auf sein Leben einzunehmen, und wenn nicht Gott, dann wenigstens sich selbst als Sinngeber einzusetzen. Wir können unser Leben in Ausschnitten reflektieren, aber hinsichtlich des „Sinn des Lebens“ funktioniert das nicht. Wenn wir wüssten, weshalb wir hier sind, wären wir nicht sinnbedürftig. Wir bleiben uns selbst ein Rätsel.
Wie entsteht die Sinnfrage? Sie bedrängt uns, wenn man aus dem Vertrauten herausgefallen ist, wenn Krisen einen beuteln, oder wenn man mit Schicksalsschlägen, Verlust und Tod konfrontiert ist.
Wir bleiben uns selbst ein Rätsel
Wer die Sinnfrage stellt, möchte seinen Lebensentwurf reflektieren: dass das Leben Sinn macht, wenn man füreinander da ist, wenn man sich für künstlerische oder politische Werte einsetzt; oder wenn man ohnehin keine andere Wahl hat, als sich durchzuwursteln. Heute versucht jeder sich selbst Antworten zu geben, da die großen Sinnsysteme ihre Kraft verloren haben. Das Leben ist nicht mehr wie früher in eine Ordnung des Kosmos eingebunden, sondern unser eigenes Bewusstsein ist in den Mittelpunkt gerückt und damit auch die Frage: Welchen Sinn hat mein Leben? Letztlich hängt sie mit dem Wissen zusammen, dass all unsere Wege irgendwann enden werden, dass nichts bleibt wie es ist, dass alles vergänglich ist. Keine angenehmen Gedanken, aber sie geben dem Leben Tiefe, denn sie erlauben uns, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und ihren Wert zu schätzen. Dieses Wissen macht uns menschlicher, bescheidener und lässt uns unsere Lebenszeit und unsere Grenzen bejahen.
Die Sinnfrage – so alt wie die Menschheit
Thematisch ist die Sinnfrage alt – schon der griechische Philosoph Platon beschäftigte sich mit ihr in seinem „Höhlengleichnis“ – aber sie ist eine junge Frage, die erst im 19 Jahrhundert aufkam. Im Mittelalter, in der Renaissance und im Barock musste man sich nicht um Sinnfragen kümmern, da gab es die Kirche, die dem Menschen sagte, was Gottes Ideen und Pläne waren. Heute ist es dem Einzelnen überlassen persönlichen Sinn zu suchen. Viele suchen ihn in Pseudoreligionen oder esoterischen Bewegungen. Manche flüchten sich in die Fänge von Sekten, andere in den Konsum, ins Internet oder in die Depression. Sie wollen selbst die Autoren ihres Lebensskripts sein und sich aussuchen, welche Sinnangebote ihrer Bedürftigkeit entsprechen.
Sinn muss erschaffen werden
Wir müssen selbst entscheiden, welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden. „Wenn ich nur noch arbeite und abends todmüde ins Bett falle“ – „Wenn ich von einer Enttäuschung in die nächste stolpere“ – „Wenn ich die prächtigen Kastanienbäume, die vorbeihuschenden Fledermäuse, das erste Grün im Frühjahr genieße“: hat das einen Sinn? Fragen, die man schlicht mit „Ja und Nein“ beantworten könnte. Ja, alles hat einen Sinn, man muss nur sorgfältig danach suchen. Nein, nichts hat einen Sinn. Alles muss erst einen Sinn erhalten: von uns, die wir den Dingen und Ereignissen Sinn geben.
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