Studien zeigen: Diäten scheitern mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 bis 98 Prozent. Zwei Drittel wiegen danach mehr als vorher. Höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel!
Wer bin ich? Eine Frage, die viele bewegt, und dennoch ersetzen wir sie mehr und mehr mit einer anderen Frage, die unseren Alltag bestimmt: Wie viel bin ich wert? Dafür gehen wir auf die Suche nach Zahlen, um unseren „Selbstwert“ zu messen. Im Fernsehen, auf Social Media, in Büchern und Zeitschriften werden wir fündig. BMI. Gewicht. Du bist, was du isst!
Vorbei die Zeiten, in denen wir uns so akzeptieren müssen, als wer wir geboren sind. Glück hat man nicht, Glück macht man sich. Und so machen wir uns daran, an unseren Körpern zu arbeiten, um unseren Wert zu steigern. Zufriedenheit, Erfolg, Beliebtheit, ja sogar Liebe, scheinen abhängig von unserem Aussehen. Dünner, sportlicher, kurviger müssen wir sein. Die Haut muss rein, das Haar glänzend, die Lippen müssen voll sein. Wehe den Falten, den Mitessern, dem krausen Haar. Es gibt ein Ideal. Und wenn wir dem nicht gleichen, haben wir versagt.
Kein Körper ist ein Problem, das gelöst werden muss
„Kein Körper ist ein Problem, das gelöst werden muss“, so Petra Schleifer und Antonie Post, die ihre Erfahrungen in ihrem Buch „Gesundheit kennt kein Gewicht“ aufgeschrieben haben. Die psychischen Folgen von Diäten mussten die beiden Ernährungswissenschaftlerinnen schon in frühen Jahren selbst erleben. „Ich war so erschöpft, dass ich im Nachhinein sagen würde, ich hatte ein Burn-out“, beschreibt Petra Schleifer ihren Zusammenbruch nach einer 35 Jahre langen Diätkarriere. „Ich befand mich in einem Kreislauf aus Hungern, Abnehmen, Essanfällen, Bewegungszwang und Sportverweigerung.“ Inzwischen zeigen viele Studien den drastischen Effekt, den Diäten auf die Psyche haben können. Depressionen und Angststörungen werden häufiger, und die allgemeine Lebensqualität sinkt. Auch das Risiko für Essstörungen steigt. Anorexie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate.
Wofür dann das Ganze? Geht es wirklich nur darum, fitter zu sein und in kleinere Jeans zu passen? „Meistens steckt ein ganz anderes Bedürfnis hinter dem Wunsch abzunehmen“ , sagen Schleifer und Post. Dabei kann es um das Bedürfnis nach Liebe, Zugehörigkeit und Wertschätzung gehen. Darum, einfach mal gesehen zu werden und Bestätigung zu erhalten. „Diäten geben Struktur und Sicherheit und erschaffen die Illusion, dass, wenn wir unser Essen und unseren Körper kontrollieren, wir auch unser Leben im Griff haben.“
Du darfst deinen Körper lieben, musst es aber nicht
Kriege und Pandemien zerrütten unsere scheinbar heile Welt. Wir kommen uns vor wie ein Nichts, anderen ausgeliefert, ob das nun die eigenen Eltern, der Chef oder ein mutierter Virus ist. „Es ist schwer, diese vermeintliche Kontrolle aufzugeben“ , schreiben die Autorinnen. Diät kann ein Ersatz sein, ein Mikrokosmos bestehend aus Nahrungsaufnahme, Sport und den Zahlen auf der Waage. Aber selten löst sie unsere Probleme. Während wir uns immer obsessiver mit unserer neusten Ernährungsweise beschäftigen und mit der Workout Routine ringen, bleiben die unerfüllten Bedürfnisse. Und uns fehlt die Energie, sie tatsächlich anzugehen, den Autonomiekonflikt mit den Eltern auszufechten, den Job, der uns unzufrieden macht, zu wechseln oder unsere Hilflosigkeit zu bekämpfen, indem wir uns ehrenamtlich oder politisch engagieren. Doch wie fängt man an, sich ohne Diät wohl im eigenen Körper zu fühlen?
Mariele Diehl
Zum Weiterlesen: Schleifer/Post, Gesundheit kennt kein Gewicht, Südwest Verlag
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2022
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