Sei glücklich, nicht perfekt

Ein übertriebenes Streben nach Perfektionismus ist zum Scheitern verurteilt. Es sollte uns vielmehr darum gehen, wie wir glücklich mit uns selbst werden können.

Erwarten Sie stets Bestleistungen von sich selbst? Ist Ihr Selbstwertgefühl überwiegend von Ihren Leistungen abhängig? Haben Sie Angst, Fehler zu machen? Wenn Sie diese Fragen mit „Ja“ beantwortet haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch Sie zu übertriebenem Streben nach Vollkommenheit neigen. Im Duden ist diese Definition von Perfektionismus noch mit dem Hinweis „leicht abwertend“ versehen, doch im Alltag erscheint es inzwischen als Selbstverständlichkeit, immer und überall das Bestmögliche herauszupressen und dennoch mit dem Erreichten nie zufrieden zu sein.

Perfektionismus als Norm

Dann ergeht es uns wie dem perfektionistischen Mönch in einer alten Zen-Geschichte. Dieser sollte in seinem Kloster eine Mauer errichten und gab sich große Mühe, alle tausend Steine gerade und gleichmäßig aufeinanderzusetzen. Doch als er sein Werk beendet hatte, entdeckte er zu seinem Entsetzen zwei schief sitzende Steine, über die er sich fortan jedes Mal ärgerte, wenn sein Blick auf die Mauer fiel. Als ein Klosterbesucher sein Werk bewunderte, erkundigte sich der Mönch verblüfft, ob dieser denn die beiden schiefen Steine nicht gesehen habe. „Natürlich sind sie mir aufgefallen“, antwortete der Besucher, „aber ich sehe auch 998 gut gesetzte Backsteine.“

Der Selbstoptimierungswahn greift um sich

Ein Selbstoptimierungswahn greift um sich. Vor allem Frauen erwarten von sich, Karriere, Kinder, Partnerschaft und alles, was sonst im Leben so anfällt, stets locker flockig unter einen Hut zu bringen. „Dabei stellen sie hohe Erwartungen an sich selbst: Perfekt gestylt, voller Tatendrang und brillanter Ideen möchten sie sein – Superfrauen eben. Ihr Perfektionismus ist aber ein typischer Auslöser für Stresssymptome“, stellt eine Untersuchung der DAK fest. Während sich nur 37 Prozent der Männer von den eigenen hohen Ansprüchen antreiben lassen, sind diese bei den Frauen mit 48 Prozent Stressauslöser Nummer eins.

Das perfekte Selbst als Illusion

Auch der Glaube, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, ist damit eng verbunden. Wer es nicht zu Reichtum und Ansehen bringt, gilt als weniger begehrenswert und ist selber schuld. Zusätzlich tragen die Sozialen Medien mit ihren omnipräsenten Rankings, Scorings, gegenseitigen Leistungskontrollen, Kommentaren und einem permanentem Zwang zur Selbstdarstellung entscheidend dazu bei, dass sich immer mehr Menschen von anderen unter Druck gesetzt fühlen. Hinzu kommt eine verunsicherte Elterngeneration, die ein „Scheitern“ ihres Nachwuchses als eigenes Versagen empfindet, und deshalb bereits Kindergartenkinder unter Leistungsdruck setzt. Um deren späteren Erfolg zu garantieren, werden sie zunehmend kontrollierender, leistungsorientierter, strenger und gestehen ihrem Nachwuchs viel weniger Spielräume zu, als sie selbst früher hatten.

Negative Folgen des Perfektionismus

Auch das klassische „Betätigungsfeld“ des Perfektionismus erweitert sich ständig. Längst geht es nicht mehr nur darum, bestimmte Aufgaben bestmöglich zu erledigen. Angestrebt werden zusätzlich der perfekte Körper und der perfekte Charakter. Kurz: das rundum perfekte Selbst. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass ein direkter Zusammenhang zwischen diesen irrationalen Persönlichkeitsidealen und dem eklatanten Anstieg psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen besteht. Zu den negativen Folgen von Perfektionismus zählen beispielweise Depressionen, Grübeln, Burnout, Neurosen, Suizidgedanken sowie Angst- und Essstörungen.

Die Angst zu versagen

Ein Blick auf typische Glaubenssätze perfektionistischer Menschen kann aufzeigen, welche Bedürfnisse und Ängste sich dahinter verbergen: „Ich muss fehlerlos sein, sonst bin ich nicht okay.“ „Nur wenn ich perfekt bin, werde ich respektiert.“ „Einen Fehler zu machen, heißt total zu versagen.“ Der Psychologe Nils Spitzer weiß: „Eine solche Versagens- oder Fehlerangst wird häufig als zentrale Motivation hinter dem Perfektionsstreben vermutet“. Der Schweizer Psychiater C.G. Jung stellte bereits in der Nachkriegszeit die These auf, dass Individuen und Kollektive, Minderwertigkeitsgefühle mit hohen Idealen kompensieren, was innere Spannungen erzeugt, die sich wiederum in extremer Leistungsbereitschaft äußern. Auch die moderne Forschung geht davon aus, dass Perfektionismus mit geringem Selbstwertgefühl und mangelnder Selbstakzeptanz einhergeht.

Die Perfektionismusfalle

In Managementseminaren lernt man, dass sich Perfektionisten nur schwer in Teams einfügen. Sie haben Probleme mit Kritik umzugehen und nehmen vieles zu persönlich. Gerne wird das sog. Pareto-Prinzip als Argument gegen übersteigerte Gewissenhaftigkeit angeführt. Es besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreicht werden. Die verbleibenden 20 Prozent erfordern mit 80 Prozent des Gesamtaufwandes den größten Arbeitsaufwand. Weshalb es ineffektiv und unproduktiv ist, stets 100 Prozent anzustreben. Perfektionismus ist so gesehen eher die Quelle des Übels. Perfektionisten sollten deshalb gnädiger mit sich sein. Sie sollten das große Ganze im Auge behalten. Sich weniger mit anderen vergleichen und Fehler von vornherein einplanen.

Unperfekt aber glücklich

Am Beispiel dieser Tipps lässt sich gut erkennen, dass Perfektionismus nicht etwa als schädlich gilt, weil er Lebensqualität und Gesundheit gefährdet, sondern weil er perfektere Arbeitsresultate verhindert. Doch anstatt nun neuen Idealvorstellungen von der perfekten Imperfektion hinterherzuhecheln, könnten wir damit beginnen, den Balken im eigenen Auge ein wenig zur Seite zu schieben. Mit diesem freien Blick wenden wir uns neugierig und interessiert den eigenen perfektionistischen Tendenzen zu. Welche körperlichen Empfindungen lösen sie aus? Mit welchen Gefühlen und Gedanken gehen sie einher? Tragen sie dazu bei, dass wir uns glücklicher und zufriedener fühlen?

Wunsch und Wirklichkeit

Perfektionisten richten ihren Fokus zwangsläufig auf ein zukünftiges Ziel, der gegenwärtige Zustand dient meist nur zum Abgleich mit dem, wie es später einmal sein soll. In ihrem Leben klafft eine breite Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit – und in der stecken sie fest. Ihre Lebensaufgabe besteht darin, die Lücke zu schließen. Alles, was dazu beiträgt, ist gut. Alles was den Lückenschluss verhindert und verzögert, ist schlecht. Die dazu nötigen Handlungen werden meist im „Autopilot“-Modus verrichtet, d.h. sie reagieren anstatt zu agieren, sind nicht bei der Sache und die Gedanken sowieso stets einen Schritt nebendran, hintendrein oder weit voraus. Das Aufmerksamkeitsfeld reduziert sich so auf einen Tunnelblick, in dem eben nur das Perfekte gut genug ist. Ein abschweifender Geist gilt jedoch als untrüglicher Indikator für kommendes Unwohlsein.

Track your Happiness

Die Harvard-Professoren Matthew Killingworth und Daniel T. Gilbert zeigen das in ihrer „Track-your-happiness-Studie“. Dort wurden Probanden per App gefragt, wie es ihnen geht, was sie gerade tun, und ob sie mit ihrer Aufmerksamkeit bei der Sache sind. Für das persönliche Wohlergehen ist es nicht entscheidend, was wir tun. Entscheidender ist wie konzentriert wir es tun. Denn unabhängig davon, was die Probanden gerade taten, waren sie glücklicher, wenn sie sich auf die aktuelle Tätigkeit fokussierten.
Dieses praktische Konzept findet sich bereits in der Bhagavad Gita, einem uralten indischen Weisheitstext, in dem der göttliche Krishna seinem Schützling Arjuna, der gerade in einer tiefen Lebenskrise steckt, Folgendes rät: „Das Werk zu tun, sei dein Beruf, nicht kümmere dich, ob es gelang. Begehre nie der Taten Frucht, doch fröne nicht dem Müßiggang.“ Hier geht es um die Kunst, so gut wie möglich zu handeln, ohne an den Ergebnissen zu haften.

Zurück in die Gegenwart

Probieren Sie aus, wie es sich anfühlt, spielerisch, neugierig, angstfrei und offen an eine Aufgabe heranzugehen. Und seien Sie sich klar darüber, dass diese Herangehensweise in der heutigen Zeit ein revolutionärer Akt ist. Experimentieren Sie damit, das, was ansteht, so gut, gewissenhaft und sorgfältig wie möglich zu tun – und mit Freude. Wenn Sie die ausgeübte Tätigkeit wertschätzen und sie als weder zu schwer noch zu leicht empfinden, kann dabei ein angenehmes Flow-Gefühl entstehen. Sie werden sozusagen zum Verb und gehen im Tun auf. Schielen Sie dagegen sorgenvoll auf die Früchte Ihrer Arbeit, degradieren Sie Ihr Tun zum bloßen Mittel für zukünftige Zwecke und machen den gegenwärtigen Augenblick zum ersten Opfer dieser inneren Haltung. Die glücklichsten Menschen sind diejenigen, die die Schönheit eines Moments erkennen und genießen können.
Veronika Schantz

Mehr Artikel zum Thema Achtsamkeit finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 4/2022

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