Mein Achtsamkeitstag

In unserem lauten Alltag nehmen wir uns kaum mehr Zeit dafür, das Leben in Ruhe zu genießen. Wir hetzen uns mit Aufgabenlisten ab und machen unsere begrenzte Freizeit zumeist von anderen abhängig. Unsere Autorin verbringt aus diesem Grund einen Tag in Achtsamkeit nur mit sich selbst.

Für mich bedeutet Achtsamkeit, mir stille Momente zu schaffen, um meine innere Stimme hören zu können. Sie meldet sich beispielsweise, wenn ich morgens aufwache und weiß, dass ich nichts zu tun, nirgends hinzugehen habe. Dann krabble ich aus meinem Bett, umschlinge mich mit einer dicken Strickjacke und setze mich mit Tee in meinen Lieblingssessel. Während ich so in der Stille ohne jede Ablenkung verweile, kann ich manchmal mein Herz rufen hören. Dann kann ich mich fragen: „Was ist denn los?“ Für solche Momente des In-mich-Hineinhörens habe ich im lauten Alltag, in dem ich die negativen Gefühle mit Optimismus und reichlich Arbeit zudecke, keine Zeit.

Momente des In-mich-Hineinhörens

Das Problem mit den negativen Gefühlen besteht darin, dass sie, auch wenn wir sie versuchen zu unterdrücken, unter der Oberfläche weiter brodeln. Früher oder später gelangen sie dann an die Oberfläche und sind so gewaltig, dass ich sie nicht länger ignorieren kann. Aber dazu muss es gar nicht erst kommen, denn ich kann rechtzeitig für emotionale Ausgeglichenheit sorgen, wenn ich mir Raum und Stille schaffe, um mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.

Und genau darum soll es bei meinem Achtsamkeitstag, meinem Rendezvous mit mir selbst gehen: dass ich den innerlichen Druck herausnehme, mich permanent mit allem Möglichen ablenken oder beschäftigen zu müssen. Einen Raum für Gefühle schaffen und sie als Anhaltspunkt nehmen, um zu reflektieren, wie es mir mit mir selbst und meinem Leben geht.

Zur Ruhe kommen: Aller Anfang ist schwer

Mein Achtsamkeitstag startet morgens um 7 Uhr. Mit einem Tee in der Hand sitze ich das erste Mal seit Jahren wieder eingekuschelt in meinem Sessel, ohne nebenbei mit dem iPhone in der Hand E-Mails oder Sprachnachrichten zu checken oder in der Zeitung zu lesen. Handy an meinem Achtsamkeitstag das geht gar nicht!

Erst jetzt, als ich im Raum verweile, bemerke ich, wie still es um mich ist. Die Stille auszuhalten fällt mir schwer, da ich normalerweise pausenlos großen und kleinen Beschäftigungen nachgehe. Aber nun, da sie fehlen, stellt sich mir die Frage: „Was mache ich jetzt bloß den ganzen Tag mit mir?“ Noch bevor ich über dieser Frage in Panik geraten kann, greife ich zu den Achtsamkeitsmethoden, die ich mir tags zuvor zusammengestellt habe.

Also werde ich der Reihe nach meinen heutigen Achtsamkeitstag mit Meditation, achtsamem Malen, einem Ausflug in mein Lieblingscafé und einem langsamen Spaziergang verbringen. Alles Beschäftigungen, die mir dabei helfen sollen, die Stille in mir auszuhalten. Was für eine Herausforderung!

Nach dem Tee beginne ich mit dem Meditieren. Um mich darauf einzustimmen, beträufle ich meinen Duftstein mit meinem Lieblingsöl aus Lavendel und Iris, das sogleich für eine entspannende Atmosphäre sorgt. Obwohl ich von dem mir vertrauten Duft umgeben bin, bin ich ein wenig nervös. Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich wieder meditiere. Ich fühle mich daher ein wenig eingerostet, als ich es mir auf meiner Meditationsmatte bequem machen will, die Hände in den Schoß fallen lasse und die Augen schließe. Ich zähle meine tiefen Atemzüge: 1 – durch die Nase ein, 2 – durch den Mund aus, 3 – durch die Nase ein, 4 – durch den Mund aus … Kaum zu glauben, aber ich werde tatsächlich ruhiger.

Meditation für den bewegten Geist

Jetzt gebe ich das Zählen auf und konzentriere mich nur noch auf das Gefühl, das die ein- und ausströmende Luft an meinen Nasenflügeln und Lippen hinterlässt. Mein Herzschlag hat sich dem Rhythmus meiner Atmung angepasst. Und während ich meine Aufmerksamkeit langsam von meiner Atmung löse, sehe ich Gedanken in Form von Bildern vor meinem geistigen Auge aufkommen. Ich sehe Szenen, die sich gestern ereignet haben. Erinnerungen von letztem Monat, mit deren Inhalt ich mich nicht beschäftigt habe. Während ich die Gedanken ansehe, bemühe ich mich, mich damit nicht aktiv zu beschäftigen, sondern sie nur zu betrachten, bis sie von allein vorüberziehen und allmählich verblassen. Nach einer Weile kehre ich dann gedanklich wieder in den Raum zurück. Und als ich meine Augen öffne, fühlt es sich an, als wäre ich aus einem Traum erwacht. Ich recke mich und lächle: Jetzt bin ich bereit für meinen Achtsamkeitstag!

Einfach nur Malen

Als Perfektionistin fällt es mir schwer, Dinge nur zum Spaß zu machen. Sobald ich an etwas Interesse habe, muss ich es bis zur Perfektion trainieren oder überarbeiten. Was mir hilft, um gegen den Perfektionszwang anzugehen, sind künstlerische Tätigkeiten. Genau das tue ich nun als Nächstes.
Beim achtsamen Malen geht es mir nicht um das Ergebnis, sondern um den Prozess des Malens, bei dem ich auf meine innere Stimme höre. Während ich meine Malutensilien bereitlege, lasse ich mich von meinem Gefühl leiten: Tendiere ich heute zu Acryl oder Öl? Blau oder Gelb? Ordentlich oder chaotisch?
Die ersten Pinselstriche setze ich zögerlich vom Blattinneren nach außen. Nicht zu wissen, was ich malen werde, ist ein seltsames Gefühl. Seltsam, weil ich sonst immer ein bestimmtes Ergebnis anstrebe. Doch während ich wahllos Farbschicht auf Farbschicht male und sich das Blatt mit chaotischen Mustern füllt, verfliegt die Angst, perfekt sein zu müssen. An ihre Stelle ist nun das Gefühl der Freiheit getreten.
Nach dem Malen steht eine weitere aktive Tätigkeit auf meinem Plan: Der Besuch in einem Café. Eigentlich, sollte man meinen, etwas Schönes, doch während ich mich auf den Weg begebe, wird mir auf einmal bange. Mir fällt ein, dass ich noch nie wirklich mit mir allein ausgegangen bin. In der Mittagspause mal ein Brötchen im Park genießen – na klar. Aber ohne Begleitung in ein Café?

Allein-sam

Plötzlich habe ich Angst, mich einsam zu fühlen, wenn ich mir vorstelle, inmitten von Gruppen und Paaren zu sitzen. Was werden sie von mir denken? Aber die eigentlich beängstigende Frage ist eher: Was mache ich bloß die nächste halbe Stunde ganz allein mit mir? Ohne Handy, auf dem ich rumtippen könnte?
Als ich das Café betrete, sind die meisten Tische noch frei. Und ich bemerke, dass ich mich nicht auf ein Gegenüber verlassen kann, mit dem ich gemeinsam verhandle, wo wir Platz nehmen. Heute geht es um mich: Wo möchte ICH sitzen? Wo fühle ICH mich wohl? Ich entscheide mich für die Terrasse, um die vorbeieilenden Leute beobachten zu können. Mit einem Kaffee in der Hand verweile ich nun mit mir selbst und meinen Gedanken – und merke, dass es gar nicht so schlimm ist, wie ich befürchtet hatte. Ich kann es gut mit mir aushalten.
Während sich der Kaffee in meiner Tasse dem Ende neigt, erkenne ich, dass ich durch die Angst vor dem Alleinsein gehen musste, um mich in meiner eigenen Gesellschaft vollständig zu fühlen. Nur wenn ich keine fremden Bedürfnisse wahrnehmen kann, kann ich mich um meine eigenen kümmern. Nur weil keine andere Stimme da ist, bin ich in der Lage, mir selbst zuzuhören.

Ich laufe zu mir

Auf dem Rückweg entscheide ich mich dafür, mit einem achtsamen Spaziergang den Tag zu beenden. Ein schmaler Pfad führt mich hinaus aus der Stadt, durch herbstlich bunte Alleen, entlang an weitläufigen Getreidefeldern. Während ich dem Pfad weiter den Berg hinauf folge, konzentriere ich mich auf Dinge, die ich hören, spüren und sehen kann. Ich höre das Zwitschern der Vögel, rieche den Duft von feuchtem Gras unter meinen quietschenden Sohlen und sehe, wie die Abendsonne die Landschaft in goldenes Licht taucht. Als ich oben angekommen bin, den Blick über das Tal schweifen lasse, da bemerke ich, dass ich im Moment angekommen bin. Ich spüre das Kitzeln meines Atems an den Nasenflügeln, höre mein pochendes Herz und sehe die in der Stille liegende Stadt vor mir.
Hier oben bin vollkommen allein, allein mit mir – und gleichzeitig die einzige Gesellschaft, die ich gerade brauche. Ich lasse das Gefühl der Erleichterung zu, das sich in mir breit macht und mir Freudentränen in die Augen treibt. Mein Achtsamkeitstag ist zu Ende. Und doch habe ich den Eindruck, dass das erst der Anfang einer achtsamen Reise zu mir selbst ist.
Saskia Rohleder

Copyright Bildstrecke: © Kris Borreck, www.krisborreck.com

Den Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 6/2021

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