Ein alter Backsteinbauernhof auf dem Land, umgeben von vielen Tieren, mit einem Raum für Seminare, so wollte ich später leben. Ich sah es schon als junges Mädchen klar vor mir. Fast vierzig Jahre später habe ich meine alte Heimat hinter mir gelassen und einen völlig neuen Anfang gewagt. Heute lebe ich mit meinem Mann, vier Hunden und vier Eseln auf unserem Seminarhof mitten im Grünen, der genau so aussieht, wie ich ihn mir als Kind vorgestellt habe. Der Psychologe und Traumforscher C.G. Jung ging davon aus, dass in unserem Inneren, unserem Wesenskern, schon bei der Geburt alles angelegt ist, was wir verwirklichen können und auch sollen, um ein erfülltes und authentisches Leben zu führen. Denn schon vor unserer Geburt hat unsere Seele einen Plan für unser Leben erstellt. Eine Art „Seelen-Landkarte“, der wir folgen können.
Darin haben wir festgelegt, wer unsere Eltern sein, welche Persönlichkeit wir zum Ausdruck bringen werden, welche Herausforderungen uns begegnen, welche Berufung wir leben wollen und welche Ängste es zu überwinden gilt. Dummerweise gibt es niemanden, der uns zu Beginn unseres Lebens lehrt, wie wir unsere Seelenkarte lesen können. Darum irren die meisten Menschen viele Jahre herum, auf der Suche nach ihrem Weg. Damit wir uns nicht gemütlich in unserer Komfortzone einkuscheln, sondern unser Potenzial tatsächlich leben, senden unsere Seele und unser Unterbewusstsein immer wieder Botschaften in Form von Sehnsüchten und Träumen von einem neuen Anfang. Denn wonach wir uns aus tiefstem Herzen sehnen, das können wir auch realisieren. Es ist Teil unseres Lebensplans. Als Kind träumen wir vielleicht von einem aufregenden Job, dem Auswandern oder davon, ein berühmter Künstler zu werden. Doch je älter wir werden, desto mehr übernimmt der Verstand die Kontrolle. Wir ergreifen einen „vernünftigen“ Beruf, passen uns an und tun, was alle tun. Wieso schränken wir uns so sehr ein?
Jeder Mensch kommt etwa in der Lebensmitte an einen Punkt, an dem er sein Leben (noch einmal) in Frage stellt. C.G. Jung nannte diesen Moment den „Zeitpunkt des Erwachens“. Ab da geht es um „Individuation“, die Befreiung unseres wahren Wesenskerns. Jetzt sollen wir lernen, uns nicht mehr danach zu richten, was „man sollte“ oder was „im Allgemeinen“ richtig wäre, sondern unsere eigene innere Wahrheit zu finden und sie an die erste Stelle zu setzen. Darin liegt die Chance für einen neuen Anfang. Fragen Sie sich einmal: „Wenn ich heute sterben würde, könnte ich zufrieden auf mein Leben zurückblicken?“ „Habe ich den Mut gehabt, wirklich zu leben?“ Niemand ist dazu geboren, sein Leben nach einem äußeren Maßstab, der Gesellschaft oder anderen Menschen auszurichten. Wir können entscheiden, in welchem Land wir leben, mit wem wir zusammen sein und was wir beruflich wirklich tun wollen. Das Leben ist nicht dafür gedacht, ständig Kompromisse zu schließen und immer nur auf Halbmast zu fahren. „Aber man muss doch Kompromisse schließen, es kann doch nicht jeder nur an sich denken, das ist doch egoistisch“, höre ich Sie jetzt förmlich denken. Ist das so? Ist das nicht nur auch wieder ein Konstrukt, das wir als Kind bereits gelernt haben? Könnte es nicht vielmehr so sein, dass, wenn jeder seine Berufung und seine Träume leben würde und zufrieden wäre, wir alle viel besser miteinander auskommen und uns gegenseitig unterstützen würden?
Wir haben oft Angst vor Neuanfängen. Es könnte ja sein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist (gibt es den überhaupt?), dass das Neue nicht klappt (na und?). Oder dass es klappt und man dann tatsächlich ein ganz neues Leben hat (wie beängstigend!). Was werden dann die Kollegen, Freunde, die Familie sagen? Die Angst vor einem Erfolg ist oft größer als die vor dem Misserfolg. Dabei darf das Leben doch Spaß machen, Freude und Erfüllung bringen. Es war nie als Kampf gedacht. Auch wenn viele von uns das so gelernt haben. Was wir wirklich sind, ist unter vielen Schichten von Konventionen, Gewohnheiten und hinderlichen Glaubenssätzen verborgen. Eine unserer Lebensaufgaben ist es, den Mut zu haben, diese Schichten wieder abzutragen und unser wahres Selbst zu befreien.
Um neu anzufangen und sicher zu gehen, auf dem richtigen Weg zu sein, muss man sich selbst und seine Träume gründlich kennenlernen und bereit sein, Energie, Zeit und manchmal auch Geld zu investieren, um sie wahr zu machen. Doch wie geht das? Erinnern Sie sich an die Träume Ihrer Kindheit. Das sind wertvolle, unverfälschte Impulse aus Ihrem Wesenskern. Was wollten Sie einmal werden? Wie wollten Sie leben und wo? Welchen Job wollten Sie haben? Wonach haben Sie sich gesehnt? Und wovon träumen Sie heute? Wünschen Sie sich einem anderen Job? Eine längere Auszeit? Wollen Sie sich selbstständig machen? Auf dem Land leben oder in New York? Welche Tagträume und Themen begegnen Ihnen und faszinieren Sie immer wieder? Finden Sie die Gemeinsamkeiten in Ihren Träumen, Wünschen und Sehnsüchten von damals und heute. Wenn Sie das erkannt haben, liegt es an Ihnen, daraus einen Neuanfang zu kreieren, indem Sie überschaubare Ziele formulieren, diese in viele kleine Schritte herunterbrechen und einen nach dem anderen gehen.
Sie wollten schon immer zwei Katzen aus dem Tierheim holen? Sich ehrenamtlich für alte Menschen engagieren? Einmal mit dem Orient-express fahren? Eine zusätzliche Ausbildung machen? Dann tun Sie es!
Tun! Sie! Es! Das Leben ist zu kurz für Kompromisse. Ob Sie Ihre Träume verwirklichen und einen neuen Anfang wagen sollen, die Frage stellt sich übrigens nicht. Sie müssen es tun, wenn Sie ein erfülltes Leben führen wollen. Denn die wichtigste Verabredung, die wir in diesem Leben haben, ist die mit uns selbst. Oder wie C.G. Jung gesagt hat: „Du musst dich entscheiden: Willst du gut sein oder ganz?“.
Angelika Gulder
… ist Dipl.-Psychologin, Bestsellerautorin und Expertin für Neuanfänge. In ihrer Ganzheitlichen Coaching Akademie hilft sie seit fast zwanzig Jahren Menschen dabei, ihre Berufung zu finden, ihre Träume zu leben und den Weg ihrer Seele zu gehen. Zusammen mit ihrem Mann bildet sie außerdem auf ihrem Seminarhof Engelsfarm bei Hamburg Menschen aus, die einen sinnstiftenden Neuanfang als Ganzheitlicher Coach wagen wollen.
www.die-coachmacher.de
1 Gedanke zu „Willst du gut sein oder ganz?“
Kann ich nur bedingt teilen und riecht stark nach Ego, einem großen Übel unserer Zeit, wenn übertrieben ( s. auch Narzissmus in höherer Form ). Aber Authentizität ist nicht gleich Ego.
Dieter Wagner